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Meconomy

Titel: Meconomy
Autoren: Markus Albers
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sich dabei.
    Ein Massenphänomen wird der Prozess der Individualisierung mit der Herausbildung einer modernen Gesellschaft zu Zeiten der Industrialisierung – auch wenn die philosophisch-kulturgeschichtliche Grundlage hierfür schon in der Aufklärung lag. Die zunehmende Arbeitsteilung in den großen Fabriken ging einher mit einer Schwächung sozialer Bande, wie Georg Simmel und Emile Durkheim beschrieben haben.  
    Soziologen wie Anthony Giddens und Ulrich Beck sehen dann einen zweiten Individualisierungsprozess seit Ende der 1950er-Jahre. Sie konstatieren in der gegenwärtigen postmodernen Gesellschaft eine qualitativ neue Radikalisierung und Universalisierung dieses Prozesses: Alte gesellschaftliche Zuordnungen werden hinfällig, der zunehmende Zwang zur reflexiven Lebensführung geht mit einer Steigerung der Bildung einher, die Pluralisierung von Lebensstilen nimmt weiter zu, Identitäts- und Sinnfindung wird zur individuellen Leistung.
    Erkenntnistheoretiker gehen heute sowieso davon aus, dass wir uns unsere Realität selbst zusammenbauen. Anders als bei Plato, der noch an eine von uns unabhängige „ideale“ Wirklichkeit glaubte, von der wir zumindest verzerrte Abbilder erkennen können, gilt seit Kant als Konsens, „dass die Dinge, die wir anschauen, nicht das an sich selbst sind, wofür wir sie anschauen (...) und als Erscheinungen an sich selbst, sondern nur in uns selbst existieren können“. Mit anderen Worten: Wir wissen von den „Dingen“ nur das, was wir von ihnen wahrnehmen, nicht, wie sie „an sich“ sind.
    Der einflussreiche Soziologe Niklas Luhmann und die von ihm inspirierte Denkschule des radikalen Konstruktivismus gingen in den 90er-Jahren noch einen Schritt weiter: Wahrnehmen und Erkennen „liefern keine getreuen Abbildungen der Umwelt; sie sind Konstruktionen, die – bei Benutzung anderer Unterscheidungen – auch anders ausfallen können“, so der radikale Konstruktivist Siegfried J. Schmidt – anders als bei Kant ist es aber nicht das individuelle Subjekt, das sich seine Welt konstruiert, sondern es sind Systeme. Diese – es kann sich hierbei um Institutionen, Unternehmen, Prinzipien wie das Rechtssystem, aber auch um kognitive Systeme, also denkende Menschen handeln – konstruieren laut Luhmann ihre Wirklichkeit, indem sie nach je eigenen Unterscheidungskriterien filtern. Folglich gibt es keine systemunabhängige, objektivierbare Realität, sondern so viele Wirklichkeiten, wie es beobachtende Systeme gibt.
    Neurologen ergänzen, dass es für das menschliche Gehirn sowohl unmöglich als auch unzweckmäßig ist, die Welt so abzubilden, „wie sie wirklich ist“. Vielmehr sei es das Ziel des kognitiven Systems, Kenntnis über die Welt zu gewinnen, die für ein überlebensförderndes oder zumindest einem aktuellen Interesse dienendes Handeln ausreicht.  
    Das Gehirn wird dabei nicht mit einer fertigen kognitiven Welt geboren. „Vielmehr differenzieren sich die Erregungszustände des Gehirns erst allmählich in selbstorganisierender und selbstreferenzieller Weise zu der kognitiven Vielfalt aus, die später bewusst erfahren wird“, so Schmidt, und zwar „bei verschiedenen Individuen in unterschiedlicher Weise.“ Darum gibt es für jedes Individuum nur eine erfahrbare Welt, nämlich eine Erlebniswelt. Die verschiedenen Welten der Menschen stimmen dabei nur zum Teil miteinander überein. Dass wir im Alltag trotzdem den Eindruck haben, mehr oder weniger in ein und derselben Wirklichkeit zu leben, liegt an gesellschaftlichen Lernprozessen: Wir überprüfen ständig per Versuch und Irrtum, ob unsere Annahmen über die Welt sich so weit mit denen anderer decken, dass sie nützlich sind. Wir bauen uns zwar unsere eigene Welt. Aber diese funktioniert nur in permanenter Interaktion mit anderen Menschen.

Patchwork-Identität
    Was bedeutet das bisher Gesagte in einer Welt, in der es keine Krankheit ist, ein fragmentiertes Leben zu führen, sondern Alltag? Wir sind Arbeitnehmer und Verwandte, Bandmitglieder und Freizeitsportler, Liebhaber, Hobbymaler und Privatgelehrte. Mal abwechselnd, mal gleichzeitig. Der Soziologe Ulrich Beck hat in seinem Buch „Die Risikogesellschaft“ schon 1986 das selbstreflexive Individuum als neuen gesellschaftlichen Akteur identifiziert: „Das durch Mobilität etc. entstandene soziale ‚Beziehungsvakuum‘ setzt zu seiner Auffüllung das Subjekt als entscheidenden und aktiven Initiator und Gestalter seiner eigenen Kontakt-, Bekanntschafts- und
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