Medaillon des Schicksals (German Edition)
und des Gesangs. Schwer war es, aus dieser wunderbaren Stimmung aufzutauchen und sich dem Alltäglichen wieder zuzuwenden. Die Alten waren es, die sich als Erste erhoben und mit einem ›Buona nocce!‹ das Feuer verließen.
Dann standen die Paare auf und verschwanden eng umschlungen in einem nahen Waldstück, die Frauen brachten die Kinder, die längst schon am Feuer eingeschlafen waren, zu Bett, und allmählich löste sich die Runde auf.
Obwohl Rosaria wusste, dass der morgige Tag anstrengend werden würde, konnte sie sich noch nicht entschließen, ihr Nachtlager aufzusuchen.
Die Lieder und das Feuer, auch Raffaels Lautenspiel und der Anblick der verliebten Paare hatten sie in eine wehmütige Stimmung versetzt.
Rosaria schlenderte durch das nahe Waldstück und spürte der Sehnsucht in ihrem Herzen nach. Sie kannte das Gefühl, das sich ihrer besonders in lauen Sommernächten bemächtigte, doch sie konnte es nicht zuordnen. Wonach hatte sie Sehnsucht? Nach der Liebe? Was trieb sie um und machte ihr das Herz schwer, ließ die Brust von unterdrückten Seufzern erzittern? Rosaria wusste es nicht, doch ihre Zukunft war vorbestimmt, ließ keinen Platz für weitläufige Sehnsüchte und Bedürfnisse, die sie noch nicht einmal benennen konnte.
Rosaria würde bald 18 Jahre alt werden. Und dann würde sie Raffael heiraten, den Sohn der Feuerschlucker. Lange schon war es so beschlossen worden. Raffael und Rosaria kannten sich von Kindesbeinen an, waren zusammen aufgewachsen, kannten das Leben der Fahrenden und konnten sich ein anderes nicht vorstellen. Sie passten gut zusammen, das sagte jeder, sie waren ein Paar, daran gab es keinen Zweifel. Bald würde Paola zu alt zum Umherfahren sein, und auch die alten Feuerschlucker träumten davon, sich auf einem kleinen Gehöft, zu dem ein paar Weinstöcke gehörten, niederzulassen. Doch die Geschäfte mussten weitergeführt werden, die Familien erhalten bleiben. Wie gut und wie vernünftig war es da, wenn Raffael und Rosaria sich zusammentäten, wenn ihre Kinder in ein paar Jahren schon in die Kunst der Olherstellung und der Kunst des Feuerschluckens eingewei ht wären.
Rosaria seufzte. Ja, alles klang vernünftig und richtig, die Alten hatten Recht, und Raffael war ihr lieb und vertraut. Was war es, das sich in ihrem Innern sträubte? Wohin zielte ihre Sehnsucht? Es gab für sie kein anderes Leben als das in der Kolonne, die vom Frühjahr bis zum späten Herbst durch die toskani-schen Weiten zog und in den kalten Monaten auf dem heimischen Gut mit der Olivenernte und Olivenölherstellung beschäftigt war.
Wollte Rosaria etwa so leben wie die junge Hausfrau, die sie heute kennen gelernt hatte und die mit ihrem Ehemann am Lagerfeuer gesessen hatte? Wollte sie werden wie die missmutige Bürgersfrau? Nein, nein, gewiss nicht. Warum aber wurde ihr das Herz so schwer, wenn sie an ihr zukünftiges Leben dachte?
Warum zog sich alles in ihr zusammen, wenn sie an Raffael dachte? An Raffael, der ihr lieb war wie ein Bruder, aber keinerlei leidenschaftliche Gefühle in ihr zu wecken vermochte?
Rosaria hatte das Ende des Waldstücks erreicht. Vor ihr lag ein sanfter Abhang, der von Weinstöcken und der fruchtbaren roten Erde bedeckt war. Der Mond leuchtete am Himmel und tauchte alles ringsum in silbernes Licht.
Rosaria setzte sich an den Rand des Abhangs und lauschte in die Stille der Nacht, die nur durch vereinzeltes Hundegebell durchbrochen wurde.
Plötzlich hörte sie ein Wispern und Stöhnen, ein Seufzen und Lachen. Rosaria sah sich um und entdeckte unweit in einem Heuschober ein Pärchen, das sich miteinander vergnügte. Es war die junge Hausfrau, die es wohl geschafft hatte, in ihrem Mann das Feuer der Lenden zu entfachen. Rosaria lächelte, stand auf und ging ein Stück den Abhang hinunter, um die beiden, die sich allein wähnten, auch allein zu lassen.
Doch kaum saß sie da, kamen die Wehmut und die Sehnsucht zurück, und Rosaria wünschte sich an die Stelle der jungen Hausfrau, mit der sie vor wenigen Minuten noch um keinen Preis der Welt hätte tauschen wollen.
Bald durchbrach erneut ein Geräusch die Stille und ihre Gedanken. Rosaria drehte sich um und sah Raffael den Hügel herunterkommen.
»Rosaria ... Ich dachte mir, dass ich dich hier finden würde«, sagte er und ließ sich neben ihr nieder. »Kannst du auch nicht schlafen?«, fragte er und streichelte über Rosarias Knie, das wegen der hoch gerutschten Röcke unbedeckt war.
Rosaria hielt Raffaels Hand fest.
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