Medaillon des Schicksals (German Edition)
Raffael in ihr Saiten zum Klingen gebracht, deren Töne sie bisher immer erfolgreich verdrängt hatte.
Liebe ich das Leben, das ich führe?, fragte sie sich. Möchte ich die nächsten zehn, zwanzig, dreißig Jahre so weiter leben? Was erhoffe, was ersehne ich?
Eigentlich war sie mit ihrem Leben als Olivenhändlerin zufrieden. Sie liebte die Produkte, die sie verkaufte, liebte das Zusammensein mit den anderen aus der Kolonne, die ihr lieb waren wie eine Familie. Sie mochte es, durch die Toskana zu ziehen, immer neue Orte und Menschen kennen zu lernen.
Doch war sie glücklich? Rosaria wusste, dass sie die Gabe besaß, andere Menschen glücklich zu machen. Glücklich zu machen durch ihren Gesang, durch die Gabe des Zuhörens und Verstehens. Es gab niemanden, der ihr mit Feindschaft begegnete, im Gegenteil, die Menschen waren gern mit ihr zusammen, fühlten sich wohl in ihrer Gegenwart. Schon oft hatte sie das gespürt, oft wurde es ihr gesagt. Rosaria, das Sonnenkind.
Aber wer fragte sie eigentlich, ob sie glücklich war? Paola manchmal, ja, aber wer sonst?
Fühlte sie sich deshalb oft so einsam unter denen, die sie liebte und von denen sie geliebt wurde?
Rosaria seufzte leise. Ja, es war genau so: Obwohl sie so beliebt war, war sie einsam. Sie sehnte sich nach einem Menschen, der sie verstand, ganz und gar verstand, nach einem, der ihr ähnlich war. Noch nie hatte sie einen solchen Menschen getroffen, sah man einmal von Paola und Estardo ab. Wer interessierte sich für ihre Gedanken und Gefühle? Raffael? Nein, noch nicht einmal Raffael. Für ihn war sie die zukünftige Frau, eine Frau, mit der er bald das Lager und den Alltag teilen würde, mehr aber nicht. Ein Kamerad, der da war, wenn man ihn brauchte.
Rosaria aber ersehnte mehr. Sie wollte nicht irgendeinem Mann angetraut werden, sie wollte verschmelzen, eins werden mit dem Geliebten, wollte eine Gemeinschaft von Körper, Geist und Seele gleichermaßen.
Heiße Tränen stiegen in ihr hoch, fanden den Weg zwischen den zusammengepressten Lidern und tropften schwer auf das weiche Kissen. Rosaria weinte, weil sie wusste, dass sie diesen Traum begraben musste, wenn sie in ein paar Wochen Raffaels Frau wurde. Und sie weinte, weil sie wusste, dass sie schon jetzt Raffaels Frau war. Sie hatte sich ihm hingegeben. Jetzt gab es für sie noch weniger ein Zurück als vorher. Selbst wenn sie der großen Liebe begegnen sollte, was nutzte das noch? Wer würde noch eine Frau wollen, die nicht mehr rein und unbefleckt war? Warum hatte sie nicht früher daran gedacht? Warum, warum nur hatte sie diesem Moment der Lust nachgegeben, ohne die Folgen zu bedenken?
Verzweifelt schluchzte Rosaria in ihr Kissen, bis sie schließlich erschöpft einschlief.
Trotz der trüben Gedanken beim Einschlafen hatte sie einen wunderschönen Traum. Ein junger Mann, groß, mit dunklen Haaren und so silbrig grünen Augen wie die Blätter der Olivenbäume, erschien ihr. Er stand vor einem Palazzo und trug ein weißes Leinenhemd mit kostbaren Stickereien. Sein Mund lachte sie an, und die weißen Zähne zeugten von seiner strotzenden Gesundheit. Er ist Paola ähnlich, dachte Rosaria im Traum und erwiderte sein Lächeln. Dann streckte er ihr seine Hand entgegen, und Rosaria ging langsam auf ihn zu. Während sie sich ihm näherte, glaubte sie, in ihm den Mann getroffen zu haben, den sie sich in ihren heißen Tagträumen zur Seite gewünscht hatte. Doch je näher sie dem Mann kam, umso mehr entfernte er sich von ihr. »Warte doch!«, rief sie und beschleunigte ihre Schritte, doch umsonst. So schnell sie auch lief, sie kam ihm um keinen Zoll näher, im Gegenteil. Der Mann rückte in immer weitere Ferne und verlor sich schließlich im Nebel.
Obwohl Rosaria erst spät eingeschlafen war, erwachte sie am nächsten Morgen lange vor allen anderen.
Leise stand sie auf und hörte dabei die Glocken, die zur ersten Messe riefen.
Rosaria war eine gläubige Christin. Dennoch ging sie meist nur am Sonntag zur Kirche. Das Leben in der Wagenkolonne ließ den täglichen Kirchgang nicht zu. Heute aber nahm sich Rosaria die Zeit, die ihr sonst fehlte, und eilte dem Ruf der Glocken nach.
Es war noch recht kühl. Rosaria zog sich ihr Umschlagtuch eng um die Schultern und legte es auch in der Kirche nicht ab.
Nur wenige Kirchgänger hatten sich zu dieser frühen Morgenstunde vor dem Altar versammelt. Meist waren es alte Frauen in schwarzen Gewändern, die in den Bänken saßen. Auch eine junge Frau war dabei, die
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