Medaillon des Schicksals (German Edition)
konnte in der Betrachtung des kleinen Jungen ungestört fortfahren. Ein stattlicher Bursche war es, der da in ihrem Arm lag, ein strammer Junge mit einem kräftigen Zug.
Behutsam strich sie dem Kind mit dem Zeigefinger über die Wangen, fuhr die Linie der um ihre Brustwarze gewölbten Oberlippe nach – und stutzte erneut. Wo war das Mal, das all ihre Kinder über der Oberlippe hatten? Wo war der kleine schwarze Fleck, der auch ihre Oberlippe zierte und als Wahrzeichen der Familie galt?
Donatella blickte auf ihr Kind hinab und dachte noch einmal an die gestrige Nacht zurück. Der Trunk hatte ihre Sinne benebelt, hatte über den Raum und gleichzeitig über alle Geschehnisse des Tages den sanften Schleier des Vergessens gelegt. Doch war da nicht das Klappen einer Tür gewesen? Hatte sie nicht die huschenden Schritte der alten Rosalba gehört, zuerst auf der Treppe und später im Burghof? Schritte, die sich leise entfernt hatten?
Oder hatte sie da schon geträumt?
Der Sohn lag ihr auf einmal schwer und fremd im Arm. Die schwarzen Haare, die ihr eben noch wie Flaum erschienen waren, fühlten sich jetzt borstig und fest wie Pferdehaar an. Der kleine, saugende Mund kam ihr vor wie ein Blutegel, der ihr den Lebenssaft aussaugte, und die Nase hatte plötzlich keine zierlichen Flügel mehr, sondern die kräftige Form einer Bauernnase.
»Na, wie gefällt Euch Euer Sohn?«, fragte die Hebamme.
»Mein Sohn? Fremd ist er mir. Und schwer liegt er in meinen Armen. Warum hat er kein Muttermal wie die Töchter? Nein, ich kann nicht glauben, dass ich dieses Kind in der letzten Nacht zur Welt gebracht haben soll«, erwiderte Donatella di Algari.
Die Hebamme lachte, doch es war kein fröhliches Lachen.
»Man könnte meinen, Ihr hieltet Euer erstes Kind im Arm, solche Fragen stellt Ihr. Habt Ihr schon vergessen, wie es bei den Töchtern war? Ihr müsst Euch erst an ihn gewöhnen, deshalb liegt er fremd und schwer bei Euch. Und das Muttermal, Madonna! Jedes Kind ist verschieden, auch wenn es dieselben Eltern hat. Dieses hat eben kein Muttermal, dafür die Haare und die Statur des Conte.«
»Meinst du wirklich, Rosalba?«, fragte die Contessa zweifelnd.
»Natürlich«, bestätigte die Hebamme. »Die Mädchen kommen nach Euch und Eurer Familie, der Junge aber ist ganz und gar ein di Algari. Der Conte wird sich freuen.«
Die Contessa schaute die Hebamme an. Ganz fest hielt sie den Blick auf das Gesicht der alten Frau geheftet. Und ganz leise, so, dass keine der Mägde, die im Zimmer aufräumten, sie hören konnte, sagte sie: »Wenn es so sein soll, Rosalba, dann soll es so sein. Wenn dieser Junge mein Sohn sein soll, dann will ich ihn als solchen annehmen und lieben, wie ich meine Töchter liebe.«
Die Hebamme hielt dem Blick stand und erwiderte mit fester Stimme: »Es soll so sein, Contessa Donatella. Dieser Säugling ist Euer Sohn. Und als Lohn für meine Dienste erbitte ich mir daher Euer Medaillon.«
Wieder versuchte die Contessa mit ihren Blicken hinter die Stirn der alten Frau zu schauen. Und wieder ahnte sie mehr, als dass sie es wusste, warum sich die alte Frau ausgerechnet das Medaillon erbeten hatte. Es war nicht üblich, einen solch reichlichen Lohn zu zahlen. Und ganz und gar unüblich war es, ohne Not mit Familienschmuck zu bezahlen. Doch die Contessa stellte keine Fragen, sondern nickte nur. Dann nahm sie den Säugling, der inzwischen fertig getrunken hatte, hoch und küsste das Kind behutsam auf die Stirn.
Bereits zwei Tage später fand in der kleinen Burgkapelle die Taufe statt. Alle Edelleute aus der Umgebung waren erschienen, sogar der Hof der Medici in Florenz hatte einen Abgesandten geschickt.
Die Kapelle war mit Blumen geschmückt, die Fresken an den Wänden leuchteten, als wüssten sie um den frohen Anlass, und im Mittelgang der Kirche lag ein roter Läufer, der sich von der Tür bis zum Altar erstreckte. An den Wänden brannten teure Wachslichter in kostbaren Leuchtern, und vorn auf dem Altar lag die in dunkles Saffianleder gebundene Familie nbibel der di Algaris.
Auch die Bediensteten hatten sich eingefunden. Sie standen an der hinteren Wand.
Stolz wie ein Pfau zeigte der Conte di Algari seinen Sohn herum, während er den beiden Mädchen, seinen Töchtern, die verängstigt in ihren Sonntagskleidern in der zweiten Reihe der hölzernen Kirchenbank hockten, keinerlei Beachtung schenkte.
Die Contessa Donatella saß, noch immer sehr blass von den Anstrengungen der Geburt, auf einem gepolsterten Sessel
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