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Medea. Stimmen

Medea. Stimmen

Titel: Medea. Stimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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düsteren Kammer und schien nicht mehr dieselbe Frau zu sein. Sie hatte geweint, jetzt war sie reglos, steif, sehr bleich. Sie umklammerte mit den Händen ihre Arme, als müsse sie sich an sich selber festhalten. Nach einer langen Weile sagte sie mit lebloser Stimme: Du kommst zu ungünstiger Stunde, Jason. Und viel später, als frage sie sich selbst: Oder zu besonders günstiger. Ich traute mich nicht, eine Frage zu stellen. Ganz und gar überflüssig wurde ich, als die Königin hereinkam, Idya, rasend vor Zorn, gleich waren dieTöchter an ihrer Seite, hielten sie, Chalkiope winkte mir, ich ging.
    Absyrtos sei ermordet worden, hieß es. Der arme Knabe. Zerstückelt, hieß es gerüchteweise. Es schüttelte mich. Weg, nur weg. Wir trafen Vorbereitungen zur Abfahrt. Da ließ Medea mir sagen, sie wolle mich treffen. Abends, bei der »Argo«. Dann stand sie da und erklärte, sie werde mir helfen, das Vließ zu erringen. Ohne Begründung. Dann nannte sie mir jeden einzelnen Schritt, den ich zu tun hatte. Wie ich, scheinbar vom Vließ Abstand nehmend, scheinbar die Abfahrt vorbereitend, den König täuschen sollte. Wie ich zum Abschiedstrunk in den Palast kommen sollte. Wie sie dafür sorgen würde, daß weder die Wächter im Palast noch die am Hain des Ares mich stören würden. Warum ich die Schlange, von der ich inzwischen wahre Schauermärchen gehört hatte, nicht fürchten müsse, und so weiter. Den ganzen Ablauf in allen Einzelheiten. Und als wir fertig waren, mir schwirrte der Kopf, stand Medea auf und sagte, so kalt wie alles andere: Eine Bedingung: Du nimmst mich mit. Und ich, überrumpelt, voll widerstreitender Empfindungen, sagte einfach: Ja. Und nachdem ich das gesagt hatte, wußte ich, daß ich es wollte, und fühlte eine seltsame neugierige Freude und fragte mich, ob Medea jetzt von mir erwartete, daß ich sie umarmte oder sonst irgendeine bedeutsame Geste tat, aber sie hob nur die Hand zum Gruß und schlüpfte weg. So macht sie es bis heute. Was ihr wichtig ist, behandelt sie beiläufig.
    Nur diese Totenfrüchte hat sie mir einmal ernsthaft erklärt – wir mußten uns öfter treffen, und sie merkte, wie mir vor diesem Hain schauderte –; daß bei denKolchern nur die Frauen begraben würden; männliche Leichen würden in den Bäumen aufgehängt, wo die Vögel sie bis aufs Skelett säubern könnten, dann würden diese Skelette, nach Familien getrennt, in Felsenhöhlen aufbewahrt, es sei eine säuberliche und ehrfürchtige Methode, was mich daran störe. Mich störte so ziemlich alles daran, besonders aber der Gedanke, daß Vögel eine menschliche Leiche zerhacken und fressen wie irgendein Aas; der Tote, hielt ich ihr vor, müsse körperlich unversehrt in seinem Grab beerdigt oder in der Felsenhöhle eingemauert werden, um seinen Weg durch die Unterwelt anzutreten und im Jenseits ankommen zu können. Sie hielt dagegen, in den Toten sei die Seele nicht mehr, unbeschädigt sei sie entwichen und werde von den Kolchern an bestimmten dafür vorgesehenen Plätzen verehrt, und zur Wiedergeburt in einem anderen Körper füge die Göttin die zerstückelten Leiber der Toten zusammen. Das, sagte sie, sei der feste Glauben der Kolcher. Sie beobachtete mich aufmerksam, während sie sprach. Und käme es nicht darauf an, fragte sie am Ende, welchen Sinn man einer Handlung gebe? Der Gedanke war mir fremd, ich war sicher und bin es bis heute, daß es nur eine richtige Art gibt, seine Toten zu ehren, und viele falsche. Ich weiß übrigens nicht, warum sie mich dann fragte, ob es bei uns in den Ländern der untergehenden Sonne Menschenopfer gebe. Aber nein, sagte ich entrüstet, sie legte den Kopf schief und sah mich forschend an. Nein? sagte sie. Auch nicht, wenn es hart auf hart kommt? Ich sagte immer noch nein, und sie meinte nachdenklich: So. Vielleicht stimmt es ja.
    Und jetzt, nach so langer Zeit, hat sie unser Gesprächnicht vergessen, vorhin strich sie bei mir vorbei und fragte: Keine Menschenopfer, glaubst du das immer noch? Ach, mein Armer. Und kaum war sie außer Sicht, kam dieser Turon angestürzt, ein eilfertiger Widerling, den sich Akamas herangezogen hat, und wollte wissen, was Medea mir gesagt habe. Was ist bloß los. Dieser Nebel, in dem sie mich herumtappen lassen, wird mich noch wünschen lassen, ich hätte Medea nie gekannt oder sie und die Ihren wenigstens in Kolchis zurückgelassen. Ja. Auch wenn der Gedanke mich erschreckt. Dabei weiß ich, ohne sie wäre keiner von uns aus Kolchis weggekommen.
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