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Medea. Stimmen

Medea. Stimmen

Titel: Medea. Stimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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abwegigsten Wünsche soll man denken dürfen, aber nun frage ich mich, ob sie dabei geblieben wäre, wenn sie alle meine abwegigen Wünsche gekannt hätte. Denn das war mein heimlicher Triumph und meine tiefe Beunruhigung, mit meiner Begierde war ich ihr entwischt, sie, die mehr von mir zu wissen schien als ich selber, sie ahnte nicht, wohin meine Wünsche, die sie von der Angst befreit hatte, sich verstiegen, welche Gestalt sie annahmen oder an welche Gestalt sie sich hängten. Oder an welche Stimme, denn die Stimme habe ich ja zuerst gehört, als ich aus einer Art tiefen Schlafs erwachte, den Kopf immer noch vertrauensselig in ihrem Schoß, die Ruchlose.
    Sie kommt zu sich, sagte eine weiche besorgte männliche Stimme, mein Blick fiel auf ein schönes Gesicht, das sich über mich beugte, in zwei unbeschreiblich blaue Augen, Jason. Ich sah ihn wie zum erstenmal, ich lauschte dem Klang seiner Stimme, wie er sich mitder Frau um mein Wohlergehen sorgte, ich habe keine Worte dafür, wie mir da zumute wurde, ich stand auf, es ging mir besser und schlechter zugleich, es war ja nicht möglich, mein Begehren auf den Mann zu richten, der dieser Frau gehörte, und es war ja nicht möglich, davon abzulassen. Du hast, sagte sie mir, so viele Jahre lang versucht, Unvereinbares miteinander zu vereinbaren, das hat dich krank gemacht. Nach jenem wüsten Streit mit dem Vater, dessen Zeugin ich als kleines Kind gewesen war, zog meine schöne Mutter sich von mir zurück, es war, als meide sie jede Berührung mit mir. Bald war ich über und über von einem Hautausschlag bedeckt, der juckte und quälte mich, da kam die Mutter wieder und machte mir Umschläge aus Milch und Quark, und sie sang mir Lieder vor, die mir jetzt wieder einfielen, aber zeigte sie mir denn ihr wahres Gesicht, hatte sie nicht immer schon die andere mir vorgezogen.
    Welche andere, fragte mich natürlich die Frau, wir redeten unentwegt, wo immer wir uns trafen, nie mehr im Palasthof, kaum noch in meinem Zimmer, sie schien den Palast zu meiden, sie benutzte Arinna dazu, mir Botschaften zu überbringen, die aber nicht den Anschein erwecken durften, als gingen sie von ihr aus, sie brachte mich immer wieder dazu, ihr alles zu sagen, was mir durch den Kopf ging, kunterbunt durcheinander, ich merkte, daß mir immer häufiger die Mutter in den Sinn kam, die mich verlassen hatte, von der ich nichts mehr wissen wollte. Vielleicht doch, sagte sie, vielleicht willst du doch etwas von ihr wissen. Weißt du überhaupt, warum sie in ihren düsteren Gemächern lebt und keine Menschenseele zu sich läßt. Das, sagte ich, will ich nicht wissen, Turon meint, sie ist nicht ganzrichtig im Kopf, und das glaube ich, das sehe ich ja, das habe ich ja beim Festessen gesehen an der Tafel, als sie wie eine Mumie neben dem Vater saß, der einem leid tun konnte mit dieser Königin, und als sie mich nicht einmal ansah, nicht einmal den Kopf nach mir umdrehte, geschweige nach mir fragte, sondern ging, einfach wegging, und wieder das Ungemach über mich kam, ja, sagte ich der Frau zornig, sie hat es mir angehext, immer wenn ich sie sehe oder über sie rede, kommt es über mich. Das mag gestimmt haben, sagte die Frau, aber stimmt es noch heute.
    Es war unglaublich, aber sie schien sich beinahe zu freuen, als dieser gräßliche Hautausschlag wiederkam, ich geriet außer mir, als er anfing, zuerst in den Hautfalten, dann sich ausbreitete über große Teile des Körpers, ekelhaft, nässend und juckend, das sei, behauptete sie, ein Zeichen von Heilung, wie sagtest du doch: Milch und Quark?, sie machte mir die gleichen Umschläge wie meine Mutter, sie summte dazu die Lieder meiner Mutter, sie gab mir eine der widerlichsten Tinkturen zu trinken, sie zeigte mir die Stellen meines Körpers, von denen der Ausschlag sich zurückzog, die neue Haut, die zum Vorschein kam, du häutest dich, Glauke, sagte sie heiter, wie eine Schlange. Sie sprach von Wiedergeburt. Es waren Tage voller Hoffnung, bis sie mich im Stich ließ, wie meine Mutter mich einst im Stich gelassen hat, es war das, was sie niemals hätte tun dürfen. Ich hasse sie.
    Jetzt wird ihr der Hochmut vergangen sein. Immer lauter wird ihr nachgesagt, sie habe ihren kleinen Bruder umgebracht, und heute hörte ich Stimmen, die ihren Namen zusammen mit der Pest nannten, die unten inden Armenvierteln der Stadt ihre ersten Opfer gefordert hat, Agameda, die sich rührend um mich kümmert, erwähnte es beiläufig, mir schien, sie beobachtete scharf, wie ich

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