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Medea. Stimmen

Medea. Stimmen

Titel: Medea. Stimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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an einer anderen hängt, immer hängen wird, ich weiß es ja, man wird sie nie wieder los. Aber kann eine wie ich ein Geschenk der Götter zurückweisen, muß ich nicht die Brosamen auflesen, die mir vom fremden Tisch zufallen, sie schmecken bitter, aber doch auch süß, um so süßer, je weiter er sich von mir entfernt, dann ist er in meinen Gedanken bei mir, redet mit mir, wie er nie mit mir geredet hat, berührt mich, wie er mich nie berühren wird, verschafft mir ein Glück, das ich nicht kannte, ach Jason.
    Die Frau wird untergehen, und das ist gut so. Jason wird bleiben. Korinth wird einen neuen König haben. Und ich werde meinen Platz neben diesem König einnehmen und werde vergessen, vergessen, endlich wieder vergessen dürfen. Was sie mir nicht erlauben wollte, die Frau, ganz übel wird mir, wenn ich daran denke, wie sie mich gequält hat, gerade an jenem Nachmittag bei Arethusa, an dem wir zu fünft – Oistros war dazugekommen und zu meinem Erstaunen auch Leukon, der mehr von den Sternen wissen soll als jeder andere in Korinth und vor dem ich immer eine Scheu hatte – draußen in dem schön gepflasterten Innenhof saßen, um den herum die Skulpturen des Oistros standen, als hielten sie Wache, ein Orangenbaum gab uns Schatten, wir tranken ein wunderbares Getränk, das Arethusa bereitet hatte, ich fühlte mich in eine andere Welt versetzt, meine Schüchternheit verflog, ich redete mit, fragte. Ich erfuhr, daß Arethusa aus Kreta hierhergekommen war, daß sie und einige andere sich auf dem letzten Schiff der von einer Flutwelle bedrohten Insel hatten retten können, sehr jung sei sie gewesen, fast noch ein Kind, und doch hatte sie manche ihrer Sitten, auch die Herstellungsweise mancher Speisen und Getränke und die Kunst des Steineschneidens mit hierhergebracht, vor allem aber sich selbst, sagte Leukon und strich ihr sacht über den Arm, sie nahm seine Hand und schmiegte ihre Wange hinein. Mir fiel es wie Schuppen von den Augen, ich war unter Liebespaaren. Denn wenn auch Oistros und die Frau, deren Namen ich nicht nenne, sich selten berührten, ihre Blicke konnten sie nicht voneinander lösen. Ich konnte es kaum fassen: Jason war frei.
    So saßen wir und redeten und tranken und aßen die schmackhaften fleischgefüllten Fladen, die Arethusa brachte, allmählich ließ die Nachmittagshitze nach, das Licht verblaßte, einer nach dem anderen ging. Ich war mit der Frau allein. Sie ging ein paar Schritte mit mir bis zu einem Wasserrinnsal, das aus einer Brunneneinfassung floß, wir setzten uns auf ein Rasenstück, ich muß etwas von einem schönen Nachmittag gesagt haben, von meiner Sehnsucht nach solchen Tagen, die so selten seien, ich muß ihr wieder einmal mein Herz geöffnet haben, sie brachte es fertig, mich wieder in jene Tiefe zu führen, wo die Bilder der Vergangenheit ruhen. In jene Untiefe, wo ich mich, sehr klein noch, untröstlich weinend auf der Steinschwelle zwischen einem der Räume des Palastes und dem langen eisigen Gang sitzen sah. Was für ein Zimmer das sei, auf dessen Schwelle ich sitze, wollte sie wissen, aber ich wollte mich nicht umsehen, ich hatte Angst, sie raunte ihre beruhigenden Sprüche, da mußte ich mich umdrehen. Es war ein Zimmer, in dem ein Mädchen wohnte. Eine in herrlichen Farben bemalte Truhe stand da, Kleider waren auf der Bettstatt ausgebreitet, es gab einen in Gold gefaßten kleinen Spiegel auf einer Konsole, aber kein Anzeichen, wer da wohnen mochte. Du weißt es, Glauke, sagte die Frau, du weißt es genau. Nein, rief ich, nein, schrie ich, ich weiß es nicht, woher sollte ich es wissen, sie ist ja verschwunden, nie wieder aufgetaucht, niemals hat jemand sie wieder erwähnt, auch das Zimmer ist verschwunden, wahrscheinlich habe ich mir das alles nur ausgedacht, wahrscheinlich hat es sie gar nicht gegeben. Wen denn, Glauke, fragte die Frau. Die Schwester, schrie ich. Iphinoe.
    Iphinoe. Ich habe diesen Namen nie wieder gehört, ihn nie wieder ausgesprochen, auch nicht gedacht, das könnte ich beschwören, seit damals nicht, und warum auch, sie war ja weg, die ältere Schwester, die schöne, die kluge, welche die Mutter mehr liebte als mich. Und die von einem Tag auf den anderen verschwand, mit diesem Schiff, sagt Turon und glumert mich mit seinen eng beieinanderstehenden Augen an, und mit diesem Jüngling, sagt er und kommt mir dabei ganz nahe mit seinem säuerlichen Atem, diesem Sohn eines mächtigen, aber weit entfernten Königs, in den sie sich nun mal verliebt hat, sagt

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