Medea. Stimmen
Turon, denn, nicht wahr, die Macht der Liebe, die kennst du doch auch, und er verzieht dazu seine Mundwinkel auf unleidliche Weise, und so sei es eben dazu gekommen, daß sie überhastet an Bord gegangen sei, Iphinoe, entführt im Morgengrauen, ohne sich von mir zu verabschieden.
Ich tue so, als glaube ich ihm, aber alles weiß er nicht, der dumme Turon, denn sie hat sich ja doch von mir verabschiedet, meine Schwester, im Morgengrauen. Der Frau habe ich auch das erzählt, an jenem lauen Abend im Innenhof bei Arethusa, vertrauensselig wie ich war, es redete sich leicht im Dunkeln, so leicht wie nie zuvor, so leicht wie nie wieder. Irgendein Geräusch auf dem Gang hatte mich aus dem Schlaf geschreckt, sagte ich, ich ging zur Tür und schaute hinaus, und nun sah ich das Bild wieder vor mir, das ich so lange vergessen hatte, die Schwester, schmal, blaß, in einem weißen Kleid inmitten eines Trupps von Männern, Bewaffneten, das wunderte mich, zwei vor ihr, zwei, die sie in die Mitte genommen hatten und sie an den Oberarmen hielten oder vielleicht auch stützten, dicht hinter ihnenunsere Amme, mit einem Gesicht, das ich noch nie an ihr gesehen hatte, es machte mir angst, sagte ich zu der Frau, die meine Hand ergriff und sie festhielt, aber ich merkte, auch ihre Hand zitterte. Und dann, sagte ich, als sie ein paar Schritte an mir vorbei waren, dann drehte sich die Schwester um und lächelte. Sie lächelte so, wie ich mir immer gewünscht hatte, daß sie mich anlächeln möge, ich glaube, sagte ich, sie nahm mich zum erstenmal wirklich wahr, ich wollte ihr nachlaufen, aber irgend etwas sagte mir, daß ich das nicht durfte, schnell, sehr schnell entfernten sie sich und bogen um eine Ecke, ich hörte noch die hallenden Schritte der Bewaffneten, dann nichts mehr. Dann den Schrei der Mutter. Wie ein Tier, das geschlachtet wird, ich höre sie wieder, sagte ich weinend. Ich weinte, weinte und konnte nicht aufhören, sie, die Frau, hielt meine Schultern fest, die sich schüttelten wie im Fieber, sie schwieg, ich sah, auch sie weinte. Später sagte sie, das Schlimmste hätte ich nun hinter mir. Ist Iphinoe tot, fragte ich. Sie nickte. Ich hatte es die ganze Zeit gewußt.
Aber was heißt gewußt. Man kann sich viel einreden lassen, nicht wahr. Da hat Turon schon recht. Sie, diese Person, hat mich in ihre Gewalt bringen wollen, wie Frauen ihres Schlages das an sich haben. Sie war es, die mir all diese Bilder, all diese Gefühle eingeflößt hat, das ist ihr ein leichtes mit ihren Tinkturen, die sie mir natürlich weggenommen haben. Sie hat allerlei abwegige Verdächtigungen in mir gestärkt, das klingt doch glaubhaft. Oder möchtest du lieber glauben, liebe Glauke, daß du in einer Mördergrube lebst? sagt Turon mit dieser Grimasse, die er für ein Lächeln hält. Daß unser schönes Korinth, das diese Fremden niemals verstehenkönnen, eine Art Schlachthaus ist? Nein. Das will ich nicht glauben. Natürlich habe ich mir das alles eingebildet. Wie soll ein Kind, wie ich es damals war, so schwierige Bilder in sich aufnehmen und über die Jahre hin in sich aufbewahren können. Vergiß es, sagt Turon. Vergiß es, sagt der Vater, jetzt kommen bessere Zeiten für dich, wirst sehen, was ich mit dir vorhabe, es wird dir gefallen. So redet er jetzt mit mir, der Vater, ach.
Was ist denn los da draußen, was geht da vor. Was bedeutet dieser anschwellende Ton aus so vielen Kehlen. Was schreien sie, was soll mir dieser verfluchte Name. Sie wollen sie. Götter! Sie wollen die Frau. Helios, hilf.
Es kommt wieder, ich spüre es, schon würgt es mich, schon schüttelt es mich, ist denn keiner da, hilft mir denn keiner, fängt mich denn keiner auf, Medea.
7
Die Menschen wollen sich davon überzeugen,
daß ihr Unglück von einem einzigen Verantwortlichen
kommt, dessen man sich leicht entledigen kann.
René Girard, ›Das Heilige und die Gewalt‹
Leukon
Die Pest greift um sich. Medea ist verloren. Sie schwindet. Vor meinen Augen schwindet sie, und ich kann sie nicht halten. Ich sehe vor mir, was mit ihr geschehen wird. Ich werde alles mit ansehen müssen. Das ist mein Los, alles mit ansehen zu müssen, alles zu durchschauen und nichts tun zu können, als hätte ich keine Hände. Wer seine Hände gebraucht, muß sie in Blut tauchen, ob er will oder nicht. Ich will keine blutigen Hände haben. Ich will hier oben auf der Terrasse meines Turmes stehen und bei Tag das Gewimmel da unten in den Gassen von Korinth betrachten und bei Nacht meine Augen
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