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Medea. Stimmen

Medea. Stimmen

Titel: Medea. Stimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Sorglosigkeit wird gefährlich, ja sträflich.
    Es ist zum Verzweifeln. Als wollte sich jemand dafür rächen, daß ich mich der Gefühle so lange sorgsam enthalten habe, muß ich mein Herz an lauter Leute hängen, die die Verhältnisse in Korinth nicht wirklich kennen, keine Ahnung haben, wozu die Korinther fähig sind, wenn sie sich bedroht sehen, wie jetzt. Medea trinkt, lächelt, schweigt. Akamas hat mich wegen meiner Freundschaften schon zur Rede gestellt, als wir uns scheinbar zufällig auf der Treppe des Turmes trafen, im Halbdunkel, er hatte Zeit und Ort gut gewählt. Ich scheine gerade jene Leute zu bevorzugen, die sich ziemlich weit, so drückte er sich aus, mein Schlaumeier Akamas, ziemlich weit von unserem Königshaus entfernt haben, nicht wahr, mein lieber Leukon. Und ich, immer häufiger von einer hilflosen Wut erfüllt, habe ihm auf seine hämische Frage nicht geantwortet, sondern ihm die Gegenfrage gestellt, ob er mir irgendeine Pflichtverletzung vorwerfen könne. Ob er mich etwa für die zweifelhaften Schlußfolgerungen verantwortlich machen wolle, die andere aus meinen genauen Berechnungen gezogen hätten. Akamas lenkte ein, doch wir wußten beide, dieses Sieges konnte ich nicht froh werden; nicht zu oft durfte ich es mir erlauben, den Akamas mit der Nase auf seine haarsträubend falschen Voraussagen zu stoßen, als wüßte ich nicht, wer aus meinen Sternkarten das herausgelesen hatte, was der König hören wollte: ein glückliches Jahr für Korinth, Wachstum, Wohlstand und den Niedergang der Feinde des Königs. Statt dessen kam dasErdbeben und in seinem Gefolge die Pest. Der Stern des Akamas bei Hofe war im Sinken, er verfiel vor unseren Augen, er kann nicht leben, wenn er nicht in der Gunst des Königs ganz oben steht, das hat er mir einmal ins Gesicht gesagt, damals, als in Korinth, in unserem stolzen Korinth, ein junges Mädchen auf dem Altar der Macht geopfert wurde und die, die davon wußten, sich zu entscheiden hatten, ob sie im Dunstkreis dieser Macht bleiben oder sich zurückziehen wollten.
    Du hast davon gewußt, sagt Medea im Ton einer Feststellung, und ich versuche, ihr zu erklären, daß es eine Stufenleiter des Wissens gibt, gewußt, ja, bis zu einem gewissen Grad, aber keine Einzelheiten. Und wieder vergessen. Oder was hätten wir sonst tun können, frage ich sie. Sie sagt, sie wisse es nicht. Es sei nur schade. Schade? frage ich. Ja. Schade, daß die Übereinkünfte so brüchig seien und bei jeder Belastung einfach beiseite geschoben werden könnten. Welche Übereinkünfte, frage ich. Das weißt du doch. Die Übereinkunft, daß es keine Menschenopfer mehr geben soll. Ich wundere mich, daß sie solche Übereinkünfte ernst nimmt, aber das sage ich nicht. Es gefällt mir nicht, wie sie heute redet, ihre Stimmung gefällt mir nicht, es ist, als bewege sie sich hinter einem Schleier.
    Ich muß sie wachrütteln. Ich sage ihr, Akamas sei jetzt gefährlich, ihm sei jedes Mittel recht, seine Stellung im Palast wieder zu festigen. Da er mich brauche, hätte ich Schonung auf Zeit. Was ich ihr nicht sage, ist, daß ich meine ganze Erfahrung, meine ganze Klugheit, meine ganze List zusammennehmen muß und auch jene Fähigkeit brauche, die sie an mir verabscheut und die ich an mir nicht liebe, die Fähigkeit, zu schweigenund mich wegzuducken. In wohlüberlegten Abständen liefere ich Akamas Berechnungen, an Hand derer er günstige Voraussagen machen kann, die dann auch eintreffen, zum Beispiel über den Abschluß eines Handelsvertrags mit Mykene oder über hohe Geburtenzahlen beim Vieh. Ich sorge dafür, daß Akamas davon überzeugt sein kann, er, niemand anders als er habe diese Voraussagen gemacht, sie seien ihm im Traum erschienen, ich muß mein Licht unter den Scheffel stellen, damit sein Stern um so heller strahlen kann. Das Sternensystem an Kreons Hof hat sich neu gefügt, zuungunsten der kleinen Planeten, die in die gefährlichen Randzonen gedrängt wurden. Und, mit Händen ist es zu greifen, immer gefährlicher wird es für jeden, sich in den Abglanz jenes Lichtes zu begeben, das Medea ausstrahlt. Sie, ja sie ist das Zentrum der Gefahr. Und das Fürchterliche: Sie will es nicht wahrhaben.
    Ich weiß nicht, was noch geschehen muß, damit du vorsichtiger wirst, sage ich ihr, und sie kriegt es fertig zu erwidern, eben weil ihr schon soviel geschehen sei, dürfe sie jetzt vielleicht damit rechnen, in Ruhe gelassen zu werden. Sie halte sich ja ganz still, was solle sie denn noch tun, oder

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