Medea. Stimmen
lassen. Irgend etwas fehlt dieser Frau, was wir Korinther alle mit der Muttermilch einsaugen, das merken wir gar nicht mehr, erst der Vergleich mit den Kolchern und besonders mit Medea hat mich darauf gestoßen, es ist ein sechster Sinn, eine feine Witterung für die kleinsten Veränderungen der Atmosphäre um die Mächtigen, von der wir, jeder einzelne von uns, auf Leben und Tod abhängig sind. Eine Art ständigen Schreckens, sage ich ihr. So daß der wirkliche Schrecken, das Erdbeben, von manchen wie eineBefreiung erlebt wurde. Ihr seid merkwürdige Menschen, sagt sie, und ich: Ihr auch. Wir lachen.
Ich will ihr nicht sagen, daß die Sicherheit, die von ihr ausgeht, von den meisten Korinthern inzwischen Hochmut genannt und daß sie dafür gehaßt wird. Über keinen anderen Menschen habe ich soviel nachgedacht wie über diese Frau, aber sie ist es nicht allein, auch die anderen Kolcherinnen geben mir zu denken, sie machen hier die niederen Arbeiten und tragen den Kopf hoch wie die Frauen unserer höchsten Beamten, und das Merkwürdigste ist, sie können sich nichts anderes vorstellen. Mir gefällt das ja, und zugleich beunruhigt es mich. In deiner Nähe, sage ich zu Medea, kommen mir immer nur gemischte Gefühle. Ach Leukon, sagt sie, du nimmst deine Gefühle mit deinen Gedanken gefangen. Laß sie doch einfach frei. Dann lachen wir wieder, und ich wünsche mir, ich könnte vergessen, in welcher Lage sie ist, könnte meinen Gefühlen freien Lauf lassen und es einfach genießen, der Freund einer Frau zu sein, die mir so vertraut ist wie kaum ein anderer Mensch und die mir immer fremd bleiben wird.
Wie Arethusa, aber das ist etwas anderes. Die Fremdheit der Geliebten erhöht ihren Reiz, der übrigens auch anderen Männern nicht verborgen bleibt, sie verstehen es alle, daß ich ihr erlegen bin, selbst Akamas ließ sich zu einer gönnerhaften Bemerkung über mein Liebesglück herab, es fehlte nicht viel, und er hätte mir auf die Schulter geklopft, von Mann zu Mann, mein Blick hielt ihn gerade noch davon ab. Also sind sie alle über uns im Bilde, zerreißen sich die Mäuler über mich, über die Leidenschaft, die mich nun doch ereilt hat, es ist mirunleidlich. Wenn sie wüßten, daß ich Arethusa teilen muß mit dem Alten, den sie alle nur den Kreter nennen und den manche für ihren Vater halten, es ist ihr frühester Liebesfreund, so nennt sie ihn. Sie war fast noch ein Kind, als er sie aufgelesen oder vielmehr hervorgezogen hat unter den Trümmern ihres Hauses, das, wie alle Häuser Kretas, wie die Paläste, deren Pracht unübertroffen gewesen sein muß, durch das Seebeben zerstört wurde, ganz Kreta muß ein Trümmerhaufen sein und ein Leichenfeld, ich weiß das nur aus den Schilderungen des Alten, Arethusa spricht nicht darüber, wie sie auch nie von der Überfahrt spricht auf dem Schiff, auf dem der Alte, damals ein Mann in den besten Jahren, für sie und sich selbst Plätze erkämpft hat. Mit Gewalt, soviel ließ er sich einmal entlocken. Es kommt vor, daß er sich sinnlos betrinkt, dann redet er mehr als sonst, aber niemals, wenn Arethusa dabei ist. Ich will mir die Szenen nicht vorstellen, die sich bei der Abfahrt dieses Schiffes abgespielt haben.
Der Alte ist immer noch ein kräftiger, wenn auch frühzeitig gealterter und gezeichneter Mann, er muß furchterregend gewesen sein, er gehörte in Kreta zu den Athleten, die bei den jährlichen Festspielen im Palast vor dem Königshaus und dem versammelten Volk mit Vorführungen glänzten, die im ganzen Mittelmeerraum berühmt waren. Arethusa hängt ihm an, das ist eine unumstößliche Naturerscheinung. Ich habe nur die Wahl, es hinzunehmen oder ganz von ihr abzulassen. Beides ist mir nicht möglich. Ich habe nicht gewußt, daß das Leben diese Art Schmerz bereithält, nur mit Medea kann ich darüber reden. Übrigens denkt sie nicht daran, mich zu bedauern. Ja, sagt sie, das nimmt dichmit, aber stell dir vor, dir wäre nie etwas widerfahren, was dich so mitnimmt. Und du lernst dich kennen, nicht wahr, durch das, was du tust. Ich tue ja nichts, versuche ich zu widersprechen. Ich warte doch bloß. Aber das läßt sie nicht gelten. Auch Warten sei eine Tätigkeit, der eine Entscheidung vorausgehen müsse, eben die, daß man warten wolle und nicht abbrechen. Im übrigen suche ich ja die Nähe von Arethusa, mache kein Hehl aus meinen Gefühlen und meinem Begehren, hocke Stunde um Stunde in ihrer Werkstatt und blicke auf ihre Hände, wenn sie die Gemmen aus dem Stein
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