Medea. Stimmen
war außer mir, endlich. Er, schrie ich, er selbst habe den Pöbel angestiftet, und womöglich habe er ihn auch bezahlt. Dann erschrak ich. Natürlich hatte ich recht, das wußten wir beide, aber ich war zu weit gegangen. Das spürte auch Akamas, er straffte sich, kam langsam auf mich zu und sagte kühl: Das wirst du mir beweisen müssen, mein Freund. Er hatte gewonnen. Niemals würde ich einen Zeugen dafür finden, daß der große Akamas den Pöbel bestach, damit der sich über eine Frau hermachte. Und falls doch jemand toll genug wäre, das zu bezeugen, er wäre ein toter Mann. In jenen Minuten, als ich alle Möglichkeiten, Akamas zu überführen, in meinem Kopf durchspielte und verwerfen mußte, in jenen Minuten erst habe ich mein Korinth kennengelernt. Und ich begriff, daß es Medea zugefallen ist, die verschüttete Wahrheit aufzudecken, die unser Zusammenleben bestimmt, und daß wir das nicht ertragen werden. Und daß ich ohnmächtig bin.
Ungern denke ich an jenen Nachmittag, ungern rede ich zu Medea davon, obwohl ich das Wortgefecht, das ich Akamas lieferte, bis heute vor mir selbst vertreten kann. Wenn ich ihn schon nicht öffentlich zur Rechenschaft ziehen konnte – die Erkenntnis, daß ich ihn durchschaut hatte, habe ich ihm nicht geschenkt. Daß ich wußte, warum gerade jetzt mit haarsträubenden Anschuldigungen und nun auch mit Gewalt gegen Medea vorgegangen wurde: Weil man fürchten mußte, sie könnte einen Namen ins Spiel bringen, den wir alle vergessen wollten: Iphinoe. Es war mir eine Erleichterung, diesen Namen zum erstenmal vor Akamas auszusprechen, ihmzu sagen, daß ich damals als junger Mensch in seinem Vorzimmer gesessen und vieles erlauscht habe, was ich nicht gleich verstand, und als ich es verstand, als sich mir aus bizarren Einzelteilen endlich ein Bild zusammensetzte, vor dem ich erstarrte, da war es zu spät. Wo leben wir denn, fragte ich Akamas zornig. Er antwortete nur mit einem Blick, der besagte: Das weißt du ganz genau. Ich beschrieb Medea die Szene, ich bekannte ihr, daß meine Kühnheit verflog, daß ein Gefühl von Vergeblichkeit mich lähmte, daß ich Akamas stehenließ und bald nicht mehr wußte, ob Klugheit oder Feigheit die Zügel in der Hand hatte, als ich den Mund hielt und statt dessen loslief, um sie zu suchen. Das weiß man oft nicht, Leukon, sagte sie, in solchen Verhältnissen.
Wir schwiegen. Als sie mich durch die Stadt jagten, sagte sie, hatte ich Angst, und ich rannte um mein Leben, wie jedes verfolgte Tier gerannt wäre, aber ein Teil in mir blieb totenruhig und kalt, weil etwas geschah, was geschehen mußte. Es hätte schlimmer kommen können, sagte eine leise Stimme in mir. Ist es ein Trost, daß die Menschen überall herausfallen aus ihren Übereinkünften? Daß Flucht dir nicht weiterhilft? Daß das Gewissen keinen Sinn mehr ergibt, wenn du mit dem gleichen Satz, mit der gleichen Handlung verraten oder retten kannst? Es gibt keinen Grund mehr, auf den das Gewissen sich beziehen kann, das habe ich schon begriffen, als ich die Knöchelchen meines Bruders vom Feld aufsammelte, und wieder, als ich die zarten Knochen dieses Mädchens in eurer Höhle betastete. Es lag mir fern, dieses Wissen unter die Leute zu bringen. Ich wollte mir nur klarmachen, wo ich lebe. Du sitzt in deinemTurm und versammelst das Himmelsgewölbe um dich, Leukon, das ist ein fester Ort, nicht wahr, ich verstehe dich, ich habe zugesehen, wie deine Mundwinkel sich, seit ich hier bin, immer weiter nach unten gebogen haben. Ich bin schlechter dran, oder besser, wie man’s nimmt. Es ist dahin gekommen, daß es für meine Art, auf der Welt zu sein, kein Muster mehr gibt, oder daß noch keines entstanden ist, wer weiß. Ich lief durch die Straßen, alle wichen mir aus, alle Türen fielen vor mir zu, meine Kraft ließ nach, ich geriet in die Außenbezirke. Die schmalen Pfade, die niedrigen Lehmhäuser, um eine Hausecke hatte ich Vorsprung vor meinen Verfolgern, da stand ein Mann auf dem Weg, ein kräftiger Mann mit roten unordentlichen Haaren, der wich nicht aus, der blieb stehen und fing mich auf und schleppte mich die paar Schritte bis zu seiner Tür und trug mich hinein. Das übrige weißt du. Seitdem habe ich wieder einen Ort in dieser Stadt.
Wenig später das Erdbeben. Es dauerte nur Sekunden, sein Zentrum lag im Süden der Stadt, wo die Ärmsten wohnen, unter ihnen die Kolcher. Mein Turm hat geschwankt, aber er ist nicht eingestürzt. Das unbeschreibliche Gefühl, wenn du den Boden unter
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