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Medea. Stimmen

Medea. Stimmen

Titel: Medea. Stimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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›Das Heilige und die Gewalt‹
    Medea
    Ich warte. Ich sitze in der fensterlosen Kammer, die man mir angewiesen hat, und warte. Vor der Türöffnung, durch die ein Schimmer von Licht hereinfällt, stehen zwei Wachen, mit dem Rücken zu mir. In der großen Halle sitzen sie über mich zu Gericht.
    Jetzt ist alles klar. Sie meinen mich. Ich hätte nicht zu ihrem Opferfest gehen dürfen, sagt Lyssa, das sei der reine Hochmut gewesen. Ich widersprach ihr nicht mehr wie an dem Morgen, wann war das, gestern, vorgestern, vor drei Tagen, als ich früh erwachte und mich bereit fand, die Einladung der Artemis-Priesterinnen anzunehmen und als Fremde zum großen Frühlingsfest der Korinther zu gehen. Hochmut? Ich weiß nicht, eher etwas wie Zuversicht, die ich an jenem Morgen verspürte. Kraft zur Versöhnung. Eine ausgestreckte Hand, dachte ich, warum sollten sie sie verschmähen. Heute weiß ich warum. Weil sie ihre Angst nur durch Raserei gegen andere mildern können.
    Es war ein schöner Morgen. Ein Traum, der sich beim Erwachen auflöste, hatte ein Schleuse geöffnet, ein Wohlsein strömte in mich ein, ohne Grund, aber so ist es ja immer. Ich warf das Schaffell zurück, unter dem ich geschlafen habe, seit ich von Kolchis wegging, sprang von meinem Lager auf, die Kälte des Lehmfußbodens gab mir einen Schlag, genußvoll setzte ich einen Fuß vor den anderen, streckte die Arme, drehte mich um mich selbst, stellte mich in das noch matte Licht, das von der Tür her einfiel. Da schwamm sie, die Mondsichel, im Nachtblau, eine leicht geneigte offene Schale,abnehmend, mich erinnernd an meine abnehmenden Jahre, meine kolchische Mondin, mit der Kraft begabt, die Sonne jeden Morgen über den Rand der Erde heraufzuziehen. Und jeden Morgen die Bangigkeit, ob die Gewichte noch stimmen, ob ihr Einklang nicht über Nacht gestört, ihre vorgeschriebenen Bahnen nicht um ein weniges verrückt wurden und dadurch der Erde eine jener Schreckenszeiten bevorstehe, von denen die alten Geschichten reden. Für diesen Tag aber sollten die guten Gesetze noch gelten, die den Lauf eines Gestirns an den aller anderen binden, freudig sah ich, wie der nächtliche Horizont sich allmählich mit Tageshelle auffüllte. Dieser Tag jedenfalls würde sein wie der davor und wie der danach, auch die genauen Instrumente meines Leukon würden die winzige Spanne nicht messen können, um die der Bogen, den die Sonne über Korinth beschreibt, sich dem Scheitelpunkt nähern würde, den er zur Sommersonnenwende erreicht haben wird.
    Dann werde ich nicht mehr hier sein. Weder Helion, der Sonnengott, noch meine liebe Mondgöttin werden davon Notiz nehmen. Schwer, langsam, aber endgültig habe ich mich von dem Glauben gelöst, daß unsere menschlichen Geschicke an den Gang der Gestirne geknüpft sind. Daß dort Seelen wohnen, ähnlich den unseren, die unser Dasein betrifft, und sei es, indem sie die Fäden, die es halten, mißgünstig verwirren. Akamas, des Königs oberster Astronom, denkt wie ich, das weiß ich seit einem Blickwechsel bei einer Opferfeier. Wenn wir uns auch beide verstellen, so doch aus verschiedenen Gründen und auf verschiedene Weise. Aus abgrundtiefer Gleichgültigkeit gegenüber jedermann gibt er sich als der eifrigste unter allen Dienern der Götter, ich,indem ich mich, so oft ich kann, den Ritualen entziehe, aber schweige, wenn ich an ihnen teilnehmen muß, aus Mitleid mit uns Sterblichen, die wir, wenn wir die Götter entlassen, eine Zone des Grauens durchqueren, der nicht jeder entkommt. Akamas denkt, er kennt mich, aber seine Selbstverblendung hindert ihn, irgend jemanden zu kennen, am wenigsten sich selbst. Jetzt will er sich an meiner Angst weiden. Ich muß meine Angst eindämmen. Ich darf nicht aufhören zu denken.
    An jenem Morgen, dessen Einzelheiten so kostbar geworden sind, hörte ich, wie Lyssa nebenan in die Asche blies, wie die Flamme knisternd nach den Olivenästchen griff, die sie sorgsam geschichtet hatte, wie sie den Wassertopf auf die Herdstelle rückte und begann, den Teig für die Gerstenfladen mit klatschenden Schlägen weich und schmiegsam zu machen. Auf den Schilfmatten, die sie geflochten hatte und die meinen Füßen gut tun, ging ich zu der Truhe mit meinen Habseligkeiten, unter ihnen das weiße Kleid, das ich in Kolchis zu den hohen Festen trug, das sie, Lyssa, für mich mitgenommen hat und das ich in letzter Zeit kaum noch angezogen habe. Ich nahm es heraus, schüttelte es glatt, betastete es. Vielleicht war es dünnfädiger

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