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Medea. Stimmen

Medea. Stimmen

Titel: Medea. Stimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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fand natürlich mit ihren Warnungen kein Gehör, aber sogar die Ärzte um Kreon mahnten an, man müsse diese Toten bergen und begraben, sie wußten aus Erfahrung, daß sie eine Gefahr für die Lebenden darstellten, und tatsächlich traten die ersten Fälle der Seuche in der unmittelbaren Nähe jener verwüsteten Viertel auf, wo die Überlebenden in notdürftigen Unterkünften zusammen mit den Ratten in Nachbarschaft der Toten hausen.
    Wie sich mir die Nackenhaare sträubten, als Akamas mich rufen ließ und mir das Staatsgeheimnis anvertraute: Wir haben die Pest in der Stadt. Das vergesse ich nicht. Bebend fragte ich Akamas, was er, was der König zu tun gedächten, er sagte mit schmalen Lippen, als sei es die selbstverständlichste Sache von der Welt: Wir verlassen die Stadt. Es sei dafür gesorgt, daß eine Panik, die ausbrechen könnte, im Keim erstickt würde. Die Sicherheitskräfte seien verstärkt. Und dann sagte Akamas einen Satz, den ich Medea bis heute nicht habe hinterbringen können. Er sagte: Und deine Medea wäre gut beraten, wenn auch sie sich aus Korinth entfernen würde.
    Ich verstand ihn sofort. Ich kenne dieses Denken, ich bin damit aufgezogen worden, es ist auch in mir, ich stammelte: Aber ihr werdet doch nicht. Abergläubisch wagte ich meinen Verdacht nicht auszusprechen, Akamas verstand auch so, er sagte trocken: Warum nicht.
    Die Pest breitet sich aus. Medea hat in diesen Wochen mehr als jeder andere getan, die Kranken verlangen nach ihr, sie geht zu ihnen. Aber viele Korinther behaupten, sie ziehe die Krankheit hinter sich her. Sie sei es gewesen, die der Stadt die Pest gebracht habe.
    Es kann nicht sein, daß sie diese Stimmen nicht hört. Vorsichtig, umschreibend rede ich von dem Bedürfnis der Menschen, die eigene Last auf einen anderen zu legen. Von je hundert Gefangenen soll demnächst einer geopfert werden, um den Göttern Genüge zu tun und sie zu überreden, ihre strafenden Hände von der Stadt abzuziehen. Dies werde nichts nützen, sagt Medea. Sie werde es auch nicht zulassen. Mir wird kalt. Eindringlich beschwöre ich sie, sich nicht gegen die Gesetze von Korinth zu vergehen. Es wäre ihr lieb, wenn sie es nicht müßte, sagt sie knapp. Medea, sage ich, wenn sie nicht die Gefangenen opfern, werden sie sich ein anderes Opfer suchen. Ich weiß, sagt sie. Ich sage, weißt du auch, wie grausam Menschen sein können. Ja, sagt sie. Aber jeder hat nur ein Leben, sage ich.
    Wer weiß, sagt sie.
    Ich starre sie an. Was weiß ich von dieser Frau, was weiß ich, was sie glaubt. Ich möchte sie fragen, ob es einen Glauben gibt, der die, die ihm anhängen, von der Angst vor dem Tod befreit, von der wir besessen sind. Ich sehe sie in der aufsteigenden Morgenhelligkeit, ich frage sie nicht. Zum erstenmal denke ich, vielleicht hatsie ein Geheimnis, das mir verborgen ist. Woran ich mich halte, ist die Überzeugung, daß wir dem Gesetz nicht entgehen, das über uns genauso waltet wie über den Lauf der Gestirne. Was wir tun oder lassen, ändert nichts daran. Sie stemmt sich dagegen. Das wird sie vernichten. Du kannst machen, was du willst, Medea, sage ich ihr, es wird dir nichts nützen, bis ans Ende der Zeiten nicht. Was die Menschen treibt, ist stärker als jede Vernunft.
    Sie schweigt.
    Die Nacht schwindet, wir sitzen immer noch da. Die Sonne geht auf, die Dächer der Stadt funkeln und glitzern. So werden wir nie wieder zusammensitzen. Ich begreife jetzt, was es heißt, das Herz ist einem schwer. Ich sehe keinen Ausweg, der nicht ein Unheil wäre. Was ich sagen konnte, habe ich gesagt. Was geschehen ist, kann nicht ungeschehen gemacht werden. Was geschehen soll, ist lange ohne uns beschlossen.
    Wir schütten den Rest des Weines aus unseren Gläsern gegen die Sonne und sagen einander nicht, was wir uns dabei gewünscht haben. Ich habe mir gar nichts gewünscht. Ich denke, da ist ein Räderwerk in Gang gesetzt, das niemand mehr aufhalten kann. Meine Arme sind erlahmt. Soll ich wünschen, daß auch Medea so müde wird, wie ich es bin.
    Sie sagt, ich gehe also. Geh, sage ich. Ich stehe an der Brüstung und sehe ihr nach, wie sie über den Platz geht, der den Turm umgibt und der so leer ist wie die ganze Stadt. Leergefegt von der Furcht vor der Pest.

8
    Das Fest hat sämtliche rituellen Charakteristiken verloren, und es geht insofern schlecht aus, als es zu seinen gewalttätigen Ursprüngen zurückfindet. Es ist kein Hindernis mehr für die bösen Kräfte, sondern deren Verbündeter.
    René Girard,

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