Medicus 01 - Der Medicus
nicht seltsam, dass Rob wegen einer Katze weinte. Abgesehen von seiner Größe und seiner Kraft war es diese verletzliche Sanftheit, die sie anzog. Während der nächsten Tage ließ sie ihn in Ruhe. Die Karawane zog jetzt nicht mehr Richtung Süden, sondern wandte sich wieder nach Osten, aber die Sonne brannte trotzdem jeden Tag heißer. Mary hatte bereits eingesehen, dass die neue Kleidung, die sie in Gabrovo hatte machen lassen, unnütz war, denn das Wetter war viel zu warm für Wolle. Sie durchstöberte die Sommerkleider in ihrem Gepäck und fand ein paar leichte Gewänder, aber die waren zu fein für die Reise und würden bald fadenscheinig aussehen. So entschied sie sich für ein Unterkleid aus Baumwolle und ein grobes, sackartiges Arbeitskleid, dem sie etwas Form gab, indem sie eine Kordel um die Taille band. Dazu setzte sie einen breitkrempigen Lederhut auf, obwohl ihre Wangen und die Nase bereits voller Sommersprossen waren.
Als sie an diesem Vormittag von ihrem Pferd stieg, um wie gewohnt ein Stück zu gehen, lächelte Rob sie an.
»Fahrt mit mir in meinem Wagen!«
Sie machte keine Umstände. Diesmal war sie nicht verlegen, sondern empfand nur tiefe Freude darüber, dass sie neben ihm saß.
Er griff hinter den Sitz und zog einen Lederhut hervor, doch es war die Kopfbedeckung der Juden.
»Wo habt Ihr den her?«
»Ihr heiliger Mann in Tryavna hat in mir geschenkt.«
Marys Vater warf ihm in diesem Augenblick einen so mürrischen Blick zu, dass sie zu lachen begannen.
»Es wundert mich, dass er Euch gestattet, mich zu besuchen«, meinte Rob.
»Ich habe ihn davon überzeugt, dass Ihr arglos seid.«
Sie blickten einander unbefangen an. Sein Gesicht war schön, trotz der entstellenden gebrochenen Nase. Wie gelassen seine Züge auch bleiben mochten, der Schlüssel zu seinen Gefühlen waren seine Augen, die tiefblickend, ruhig und irgendwie älter wirkten, als er war. Sie ahnte in ihnen eine große Einsamkeit, die zu der ihren paßte. Wie alt er wohl war? Einundzwanzig? Zweiundzwanzig? Erschrocken merkte sie, dass er von dem Ackerland sprach, durch das sie zogen.
»...zumeist Obst und Weizen. Hier muss der Winter kurz und mild sein, denn das Getreide steht schon hoch«, sagte er gerade, aber sie wollte sich die Vertrautheit, die in den letzten Augenblicken zwischen ihnen entstanden war, nicht rauben lassen. »An jenem Tag in Gabrovo, da habe ich Euch gehaßt.« Ein anderer Mann hätte vielleicht protestiert oder zumindest gelächelt, er aber reagierte nicht.
»Wegen der blonden Frau. Wie konntet Ihr mit ihr gehen! Ich habe auch sie gehaßt.«
»Vergeudet Euren Haß nicht auf uns beide, denn sie war bedauernswert, und ich habe nicht mit ihr geschlafen.
Als ich Euch gesehen hatte, konnte ich sie nicht mehr anrühren.«
Sie zweifelte nicht daran, dass er die Wahrheit gesprochen hatte, und ein warmes, triumphierendes Gefühl begann in ihr zu wachsen wie eine Blume.
Jetzt konnten sie über Unwesentliches sprechen, über ihre Route, über die Art, wie die Tiere angetrieben werden mussten, damit sie durchhielten, darüber, wie schwer es war, Brennholz zum Kochen zu finden. Sie saßen auch den ganzen Nachmittag nebeneinander und sprachen ruhig über alles, nur nicht über die weiße Katze und sie beide, doch seine Augen sagten ihr wortlos ganz andere Dinge.
Sie wusste es. Sie hatte aus mehreren Gründen Angst, aber es gab auf der ganzen Erde keinen Platz, der ihr lieber gewesen wäre als der neben ihm auf dem unbequemen, schwankenden Wagen unter der glühenden Sonne, und sie verließ Rob erst gehorsam, wenn auch zögernd, als der entschiedene Ruf ihres Vaters sie schließlich dazu zwang.
Dann und wann kamen sie an kleinen Herden von schmuddeligen Schafen vorbei, doch ihr Vater hielt immer an, um sie zu prüfen, und er befragte mit Seredys Hilfe die Besitzer. Die Hirten wiesen jedes Mal darauf hin, dass er für wirklich gute Schafe nach Anatolien Weiterreisen müsse.
Anfang Mai waren sie nur noch eine Wochenreise von der Türkei entfernt, und James Cullen konnte seine Erregung nicht mehr verbergen. Seine Tochter war zwar ebenfalls erregt, aber sie gab sich alle Mühe, dies vor ihm zu verheimlichen. Obwohl sie immer wieder die Möglichkeit fand, dem Baderchirurgen einen Blick zuzuwerfen oder ihn anzulächeln, zwang sie sich, ihn zwei Tage hintereinander zu meiden, denn wenn ihr Vater ihre Gefühle erriet, würde er ihr vermutlich befehlen, sich von Rob Cole fernzuhalten. Eines Abends, als sie nach dem Essen
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