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Medicus 01 - Der Medicus

Titel: Medicus 01 - Der Medicus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noah Gordon
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Entfernung. Henry schritt langsam und bedächtig, hielt die Hände auf dem Rücken und beugte den Kopf in einem Gebet, das eines Bischofs würdig war. Es war ein schöner, warmer Sommerabend mit einer frischen Brise, die vom Wasser herwehte. Bruder Matthew, ein Geograph, hatte ihm von diesem Fluss berichtet. Er hieß Weiland, entsprang in den Midlands in der Nähe von Corby und schlängelte sich nach Crowland, von dort an wendete er sich zwischen welligen Hügeln und fruchtbaren Tälern nach Norden, bis er die Küstensümpfe durchquerte und sich in die große Bucht an der Nordsee ergoss, die The Wash hieß. Den Fluss hatte Gott mit Wäldern und Feldern umgeben. Grillen zirpten schrill. Vögel zwitscherten in den Bäumen, und Kühe glotzten ihn stumm staunend an, während sie grasten. Ein kleiner Kahn war auf den Ufersand gezogen.
    In der darauffolgenden Woche bat er um die Erlaubnis, nach den Laudes, dem Morgenlob bei Tagesanbruch, ein einsames Gebet am Fluss sprechen zu dürfen. Er erhielt die Erlaubnis, und diesmal folgte ihm Pater Dunstan nicht. Als Henry zum Flussufer kam, schob er das kleine Boot ins Wasser, stieg hinein und stieß ab.
    Er benützte die Riemen nur, um in die Strömung zu gelangen, dann saß er sehr ruhig in der Mitte des gebrechlichen Bootes, betrachtete das braune Wasser und ließ sich von dem Fluss wie ein herabgefallenes Blatt mitnehmen. Nach einiger Zeit, als er wusste, dass er sich außer Reichweite der Abtei befand, begann er zu lachen. Er jubelte und schrie kindisches Zeug.
    Er blieb den ganzen Tag auf dem Fluss, bis das Wasser, das zum Meer strömte, für seinen Geschmack zu tief und gefährlich wurde. Dann erst lenkte er das Boot ans Ufer, und nun fing eine Zeit an, in der er den Preis der Freiheit kennerlernte.
    Er wanderte durch die Dörfer an der Küste, schlief irgendwo und lebte von dem, was er erbetteln oder stehlen konnte. Gar nichts zu essen zu haben war viel schlimmer, als nur wenig zu essen zu haben. Eine Bäuerin gab ihm einen Sack voll Nahrungsmittel, einen alten Kittel und eine ausgefranste Hose für die Benediktinerkutte, aus der sie Wollhemden für ihre Söhne schneidern wollte. Im Hafen Grimsby nahm ihn schließlich ein Fischer als Gehilfen auf, der ihn mehr als zwei Jahre lang für ein paar Bissen Essen und ein armseliges Obdach hart arbeiten ließ. Als der Fischer starb, verkaufte seine Frau das Boot an Leute, die keine Helfer brauchten. Henry litt einige Monate Hunger, bis er auf eine Truppe von Gauklern stieß und mit ihnen reiste: Er schleppte das Gepäck und half ihnen bei ihren Vorführungen, als Gegenleistung erhielt er ein paar Essensreste und ihren Schutz. Selbst seiner Meinung nach waren ihre Künste bescheiden, sie verstanden jedoch, die Trommel zu schlagen und Zuschauer anzulocken, und wenn eine Mütze herumgereicht wurde, warfen überraschend viele Leute aus dem Publikum eine Münze hinein. Er sah ihnen hungrig zu. Er war zu alt, um Akrobat zu werden, denn bei diesem Beruf mussten die Gelenke geschmeidig gemacht werden, solange einer noch ein Kind war. Aber die Jongleure unterrichteten ihn in ihrer Kunst. Er ahmte den Magier nach und lernte einfache Taschenspielertricks. Der Magier brachte ihm auch bei, dass er nie den Eindruck erwecken durfte, die Schwarze Kunst auszuüben, denn in ganz England hängten die Kirche und die Krone die Hexer. Er hörte dem Geschichtenerzähler aufmerksam zu, dessen junge Schwester die erste war, die ihn in ihren Körper eindringen ließ. Er fühlte sich den Gauklern verwandt, aber die Truppe löste sich nach einem Jahr in Derbyshire auf. Jeder ging seines Weges, und keiner nahm ihn mit.
    Einige Wochen später wendete sich in der Stadt Matlock sein Schicksal, weil ihn ein Landbader namens James Farrow für sechs Jahre vertraglich verpflichtete. Später erfuhr er, dass keiner der ortsansässigen Jungen Farrow als Lehrling dienen wollte, weil es hieß, dass er es mit der Hexerei zu tun habe. Als Henry zum erstenmal von den Gerüchten hörte, arbeitete er bereits zwei Jahre für Farrow, und er wusste längst, dass der Mann kein Hexer war. Obwohl der Landbader ein kühler Kopf und verdammt streng war, stellte er für Henry Croft einen echten Glücksfall dar.
    Die Gemeinde Matlock lag in einem ländlichen, dünn besiedelten Gebiet, es gab keine Patienten aus dem Adel oder wohlhabende Kaufleute, die einen Arzt ernährt hätten, aber auch nicht zu viele arme Leute, die einen weniger teuren Chirurgen angezogen hätten. In dem weiten

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