Medicus 01 - Der Medicus
Blindheit heilen konnte, weil er diese Operation an dieser Schule, vielleicht sogar in diesem Raum, gelernt hatte. Plötzlich beugte sich al-Juzjani über ihn und betrachtete das Auge seines toten Hundes. »Setz die Nadel an der Stelle an, an der du stechen willst, und mach dort ein Zeichen!« befahl er scharf. »Dann bewege die Nadelspitze zum äußeren Augenwinkel hin, und zwar auf gleicher Höhe mit und nur ein wenig oberhalb der Pupille. Dadurch sinkt die Katarakt unter die Pupille. Wenn du das rechte Auge operierst, hältst du die Nadel in der linken Hand und umgekehrt.« Rob befolgte die Anweisungen und dachte an all die Männer und Frauen, die im Lauf der Jahre mit trüben Augen hinter seinen Wandschirm gekommen waren und denen er nicht hatte helfen können. Zum Teufel mit Aristoteles und dem Qu'ran ! sagte er sich frohlockend. Dieser Unterricht ist der Grund, weshalb ich die Reise nach Persien gewagt habe.
Am Nachmittag folgte er mit einer Gruppe von diensttuenden Studenten al-Juzjani durch den maristan . Wie Ministranten einem englischen Bischof, dachte er. Al-Juzjani untersuchte Patienten, dozierte, kommentierte und stellte den Studenten Fragen, während er Verbände wechselte und Fäden entfernte. Er war ein geschickter, einfallsreicher Chirurg. Den Patienten, die er an diesem Tag aufsuchte, hatte er entweder den Star gestochen oder einen zermalmten Arm amputiert oder Bubonen geöffnet oder das Glied beschnitten. Im Gesicht eines Jungen, dessen Wange von einem spitzen Stock durchbohrt worden war, hatte er eine Wunde genäht.
Als al-Juzjani fertig war, ging Rob noch einmal durch das Krankenhaus, diesmal hinter hakim Jalal-al-Din, einem Knocheneinrichter, dessen Patienten in komplizierten Apparaten aus Wundhaken, Kupplungen, Seilen und Flaschenzügen steckten, die Rob ehrfürchtig betrachtete.
Er hatte nervös darauf gewartet, aufgerufen oder befragt zu werden, aber die beiden Ärzte hatten seine Existenz nicht zur Kenntnis genommen. Als Jalal fertig war, half Rob den Pflegern, hinfällige Patienten zu füttern und zu reinigen.
Als er mit dieser Beschäftigung im Krankenhaus fertig war, machte er sich auf die Suche nach Büchern. Er fand in der Bibliothek der tnadrassa zahlreiche Exemplare des Qu'ran , und er entdeckte auch das Buch >Über die Seele<. Aber er erfuhr, daß das einzige Exemplar von Hunains >Zehn Abhandlungen über das Auge< schon an jemand ausgeliehen worden war, und eine Anzahl Studenten hatte sich bereits vor ihm angemeldet, um das Buch zu studieren. Der Bibliothekar im Haus der Weisheit war ein freundlicher Mann namens Jussuf-al-Gamal, ein Kalligraph, der seine Freizeit mit Feder und Tinte verbrachte und in Bagdad gekaufte Bücher kopierte. »Ihr habt zu lange gewartet. Jetzt wird es viele Wochen dauern, bis Ihr die >Zehn Abhandlungen über das Auge< bekommen könnt. Wenn ein Dozent ein Buch empfiehlt, müßt Ihr sofort zu mir kommen, sonst kommen Euch andere zuvor.«
Rob nickte resigniert. Er trug die beiden anderen Bücher nach Hause, blieb unterwegs am Judenmarkt stehen und kaufte von einer mageren Frau mit kräftigem Kinn und grauen Augen eine Lampe und Öl. »Ihr seid Europäer?«
»Ja.«
Sie strahlte. »Wir sind Nachbarn. Ich bin Hinda, die Frau des Großen Isak, drei Häuser nördlich von Euch. Ihr müßt uns besuchen.« Er dankte ihr herzlich.
Im Gasthaus von Salman dem Kleineren aß er einen pilaw , war aber bestürzt, als Salman zwei Nachbarn herbeiholte, die den Juden kennenlernen wollten, der den ca.la.at erhalten hatte. Es waren kräftige junge Männer, Brüder, die von Beruf Steinmetz waren. Die Brüder klopften ihm auf den Rücken, hießen ihn willkommen und wollten ihn zu einem Glas Wein einladen. »Erzählt uns vom calãt , erzählt uns von Europa!« rief der eine.
Eine Freundschaft zu schließen erschien Rob verlockend, aber er flüchtete sich schließlich dennoch in die Einsamkeit seines Hauses. Nachdem er die Tiere versorgt hatte, las er im Garten den Aristoteles. Er fand ihn schwierig, denn der Sinn der Worte entzog sich ihm, und er war betroffen über seine Unwissenheit.
Als es dunkelte, ging er ins Haus, zündete die Lampe an und wandte sich dann dem Qu'ran zu. Die suras waren offenbar entsprechend ihrer Länge geordnet, und die längsten kamen zuerst. Aber welche waren die wichtigen suras , die man auswendig lernen mußte? Er hatte keine Ahnung. Und es gab so viele einleitende Passagen; waren sie auch von Bedeutung?
Er las die Einleitungen immer wieder,
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