Medicus 01 - Der Medicus
verschleiertes Gesicht von dem Mann abwandte.
Hinter ihr trat eine Gestalt mit einem Turban aus dem Haus, die riesig war wie ein böser Traum. Die Hand des Eunuchen lag auf dem juwelenbesetzten Griff des Dolches in seinem Gürtel, und er wandte seine Augen nicht ab, sondern beobachtete Rob grimmig, bis er seine Schutzbefohlene durch eine Tür in einer Gartenmauer geleitet hatte. Rob sah ihnen noch immer nach, als das Eingangsportal, eine einzige große Steinplatte, auf geölten Angeln aufging und ein Diener ihn in die kühlen Räume einließ.
»Ah, junger Freund, sei in meinem Haus willkommen!« Ibn Sina ging ihm durch eine Reihe großer Räume voraus, deren geflieste Wände mit kostbaren Teppichen in den Farben der Erde und des Himmels geschmückt waren. Die Teppiche auf den Steinböden waren so dicht wie ein Rasen. Im Atriumgarten im Zentrum des Hauses war neben einem plätschernden Brunnen ein Tisch gedeckt. Rob war verlegen, denn noch nie war ihm ein Diener behilflich gewesen, sich zu setzen. Ein anderer brachte ein irdenes Tablett mit flachem Brot, und Ibn Sina sang ungezwungen sein islamisches Gebet. »Möchtest du deinen eigenen Segen sprechen?« fragte er höflich. Rob brach einen der Fladen auseinander und sagte das hebräische Dankgebet, an das er sich gewöhnt hatte, auf:
»Gesegnet seist Du, o Herr, unser Gott, König des Universums, der das Brot aus der Erde hervorbringt.«
»Amen«, schloß Ibn Sina.
Die Mahlzeit war einfach, aber ausgezeichnet: Gurkenscheiben mit Minze und dicker, saurer Milch, ein leichter pilaw mit mageren Lamm-und Hühnerstücken, gedünstete Kirschen und Aprikosen und ein erfrischendes Scherbett aus Obstsäften.
Als sie gegessen hatten, brachte ein Mann, der durch einen Ring in der Nase als Sklave gekennzeichnet war, nasse Tücher für ihre Hände und Gesichter, während andere Sklaven den Tisch abräumten und rauchende Fackeln entzündeten, um die Insekten zu vertreiben. Eine Schale mit großen Pistazien wurde gebracht, und sie knackten die Nüsse mit den Zähnen und kauten gemütlich.
»Nun.« Ibn Sina beugte sich vor, und seine bemerkenswerten Augen, die so viel aussagen konnten, leuchteten aufmerksam im Fackellicht. »Sprechen wir darüber, wieso du wußtest, daß Ismail Ghazali sterben würde!«
Rob erzählte ihm, wie er im Alter von neun Jahren erkannt hatte, daß seine Mutter sterben würde, als er ihre Hand ergriff, und wie er auf die gleiche Weise vom bevorstehenden Tod seines Vaters erfahren hatte. Dann beschrieb er die anderen Fälle, jene Personen, deren Hand er ergriffen und dabei das furchtbare Grauen und die schreckliche Erkenntnis empfunden hatte.
Ibn Sina stellte geduldig Fragen, während Rob über jeden Fall berichtete, erforschte sein Gedächtnis und sorgte dafür, daß keine Einzelheit übersehen wurde. Langsam verschwand der Vorbehalt aus dem Gesicht des alten Mannes. »Zeig mir, was du dabei tust!«
Rob ergriff Ibn Sinas Hände, blickte ihm in die Augen, und bald darauf lächelte er. »Derzeit müßt Ihr keine Angst vor dem Tod haben.«
»Du auch nicht«, antwortete der Arzt leise.
Ein Moment verging, und dann dachte Rob: Grundgütiger Gott! »Ist es wirklich etwas, das auch Ihr fühlen könnt, Arzt aller Ärzte?« Ibn Sina schüttelte den Kopf. »Nicht wie du es fühlst. In mir offenbart es sich irgendwo tief in meinem Innern als Gewißheit - das deutliche Gefühl, ob ein Patient sterben wird oder nicht. Ich habe im Laufe der Jahre mit anderen Ärzten gesprochen, die auch über diese Gabe verfügen, und wir sind eine größere Bruderschaft, als du dir vorstellen kannst. Aber ich habe niemals einen Menschen kennengelernt, bei dem diese Gabe so stark ausgeprägt ist wie bei dir. Du trägst eine Verantwortung, und um ihr gerecht zu werden, mußt du ein hervorragender Medicus werden.«
Damit war die bedrückende Realität wieder da, und Rob seufzte wehmütig. »Vielleicht werde ich gar kein Medicus, ich bin nämlich kein Gelehrter. Eure mohammedanischen Studenten wurden ihr Leben lang mit klassischer Gelehrsamkeit gefüttert, und die anderen jüdischen Studenten wuchsen in der ehrgeizig wissenschaftlichen Atmosphäre ihrer Studierhäuser auf. Hier an der ma.dra.ssa können sie auf diesen Grundlagen aufbauen, während ich nur auf zwei armselige Schuljahre und meine unermeßliche Unwissenheit zurückblicke.«
»Dann mußt du eben fleißiger und schneller lernen als die anderen«, erwiderte Ibn Sina mitleidslos. Die Verzweiflung machte Rob kühn. »In
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