Medicus 01 - Der Medicus
hatte aber erst ein paar Verse auswendig gelernt, als ihm die schweren Lider zufielen. Vollkommen bekleidet sank er auf dem von der Lampe beleuchteten Boden in tiefen Schlaf.
Eine Einladung
Rob wurde jeden Morgen von der aufgehenden Sonne geweckt, die durch das schmale Fenster seines Zimmers blinzelte und deren Strahlen sich golden auf den Dächern der windschiefen Häuser der Jehuddijeh spiegelten.
Schon bei Tagesanbruch erschienen die ersten Menschen auf den Straßen: Die Männer gingen zum Morgengebet in die Synagoge, die Frauen eilten auf den Markt, um ihren Platz in einem Stand einzunehmen oder die besten Produkte des Tages möglichst früh einzukaufen. In dem nördlichen Nachbarhaus von Rob wohnten ein Schuhmacher namens Jakob ben Rashi, seine Frau Naoma und ihre Tochter Lea. Das Haus im Süden bewohnten ein Brotbäcker namens Micah Halevi, seine Frau Judith und drei kleine Mädchen. Rob wohnte erst ein paar Tage in der Jehuddijeh, als Micah seine Frau Judith zu ihm schickte. Sie brachte ihm ein rundes Fladenbrot zum Frühstück, das noch ofenwarm und knusprig war. Überall in der Jehuddijeh hatten die Leute ein freundliches Wort für den ausländischen Juden übrig, der einen calãt erhalten hatte.
Weniger beliebt war er in der madrassa : Dort nannten ihn die mohammedanischen Studenten nie bei seinem Namen, und es machte ihnen sichtlich Vergnügen, ihn mit Dhimmi anzusprechen. Sogar die ostjüdischen Studenten nannten ihn Europäer.
Obwohl seine Erfahrungen als Baderchirurg nicht gerade bewundert wurden, waren sie ihm doch im maristan nützlich, wo es innerhalb von drei Tagen klar war, daß er verbinden, zur Ader lassen und einfache Brüche einrichten konnte, letzteres mit einer Geschicklichkeit, die der eines Absolventen der Schule gleichkam. Er mußte deshalb nicht mehr schmutziges Geschirr einsammeln und dergleichen verrichten, sondern man übertrug ihm Aufgaben, die direkt mit der Betreuung von Kranken zu tun hatten, und das gestaltete sein Leben ein wenig erträglicher.
Als er Abul Bakr fragte, welche von den einhundertvierzehn suras des Qu'ran die wichtigen waren, konnte er keine Antwort erhalten. »Alle sind wichtig«, erklärte der dicke mullah . »Manche sind nach Ansicht des einen Gelehrten wichtiger, während andere Gelehrte andere für wichtig halten.«
Die erste Vorlesung, die Rob bei Ibn Sina hörte, war eine Lektion in Anatomie, bei der sie ein großes Schwein sezierten, das den Mohammedanern als Speise verboten, aber als Studienobjekt gestattet ist. »Das Schwein stellt ein besonders gutes Objekt für das Studium der Anatomie dar, weil seine inneren Organe mit denen des Menschen fast identisch sind«, lehrte Ibn Sina, während er die Haut geschickt ablöste. Das Tier vor ihm war voller Tumore.
»Die Wucherungen mit glatter Oberfläche richten wahrscheinlich keinen Schaden an, aber einige andere sind so rasch gewachsen - seht her, wie diese«, Ibn Sina kippte den schweren Kadaver zur Seite, damit sie es besser beobachten konnten, »- daß sich Klumpen von Fleisch aneinander drängen wie die Röschen in einem Blumenkohlkopf. Die Blumenkohltumore aber sind tödlich.«
»Treten sie auch bei Menschen auf?« fragte Rob.
»Das wissen wir nicht.«
»Könnten wir nicht nachsehen?«
Nun herrschte Stille im Raum. Die anderen Studenten betrachteten den fremden, ungläubigen Kollegen voll Verachtung, während die anwesenden Lehrer aufmerksam wurden. Der mullah , der das Schwein geschlachtet hatte, hob den Kopf vom Gebetbuch. »Es steht geschrieben«, formulierte Ibn Sina vorsichtig, »daß die Toten auferstehen werden und der Prophet sie aufnehmen wird - möge Gott ihn segnen und empfangen -, um sie wieder zum Leben zu erwecken. Für diesen Tag muß ihr Körper unversehrt bleiben.« Nach einem kurzen Augenblick nickte Rob. Der mullah versenkte sich wieder in seine Gebete, und Ibn Sina setzte die Anatomielektion fort.
Am Nachmittag war hakim Fadil Ibn Parviz im maristan . Er trug einen roten Arztturban und nahm die Glückwünsche der anderen Medizinstudenten entgegen, weil er die Prüfung bestanden hatte. Rob hatte zwar keinen Grund, Fadil sympathisch zu finden, aber er war dennoch aufgeregt und froh: Der Erfolg eines Studenten konnte eines Tages auch der seine sein.
Fadil und al-Juzjani waren die Ärzte, die an diesem Tag die Runde bei den Patienten machten, und Rob folgte ihnen gemeinsam mit vier anderen Studenten: Abbas Sefi, Omar Nivahend, Suleiman-al-Gamal und Sabit ben Qurra. Im letzten
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