Medicus 01 - Der Medicus
der Tasche, denn Forschungen, intellektuelle Schlußfolgerungen und das Vertiefen in Wahrheiten und Beweise gehörten zu ihrer Religion und wurden ihnen lange, bevor sie Medizinstudenten wurden, in ihren Studierhäusern anerzogen.
Mirdin Askari war als erster an der Reihe. Sein alltägliches Gesicht mit dem langen Kinn wirkte aufmerksam, aber ruhig, und als Musa Ibn Abbas eine Frage über das Eigentumsrecht stellte, antwortete Mirdin nicht aufgeplustert, sondern ausführlich und vollständig, zitierte Beispiele und Präzedenzfälle aus dem fiqh und der shari'a . Die anderen Prüfer richteten sich erstaunt auf, als Jussef Gamali in seinen Fragen Recht und Theologie vermengte, doch Mirdins profundes Wissen zerstreute die Vorstellung, daß der Kandidat im Nachteil sein könnte, weil er ein wahrer Gläubiger war. Er zitierte als Beweise Beispiele aus Mohammeds Leben und seinen schriftlich niedergelegten Gedanken, wobei er die rechtlichen und gesellschaftlichen Unterschiede zwischen dem Islam und seiner eigenen Religion beleuchtete, wo sie belangvoll waren. Dort, wo sie es nicht waren, zog er in seinen Antworten die Thora hinzu als Beweis für den Koran, oder den Koran als Grundlage der Thora. Er benutzte seinen Verstand wie ein Schwert, fand Ibn Sina, indem er Scheinangriffe vortrug, parierte, um dann und wann einen Treffer zu landen, als wäre er aus geschliffenem Stahl. Seine Gelehrsamkeit war so vielseitig, daß jeder Zuhörer, obwohl er in etwa über die gleiche Gelehrsamkeit verfügte, wie betäubt und von Bewunderung für den außergewöhnlichen Verstand erfüllt war. Als Ibn Sabur an der Reihe war, schoß er Frage um Frage wie Pfeile ab. Die Antworten kamen ohne Zögern, aber sie drückten nie Mirdin Askaris persönliche Meinung aus, sondern waren Zitate von Ibn Sina oder Rhazes, Galen oder Hippokrates.
Einmal zitierte Mirdin sogar aus >Über niedrige Fieber< von Ibn Sabur Yãqũt. Der Gelehrte aus Bagdad verzog keine Miene, als ihm seine eigenen Worte wiederholt wurden.
Die Prüfung dauerte viel länger als sonst, bis schließlich keine weiteren Fragen von den Prüfern kamen. Da entließ Ibn Sina Mirdin freundlich und ließ Jesse ben Benjamin holen.
Die Atmosphäre veränderte sich unmerklich, als der neue Kandidat hereinkam. Hochgewachsen und breitschultrig stellte er für ältere, asketische Männer eine Herausforderung dar. Seine Haut war von der Sonne des Westens und Ostens gegerbt, in seinen weit auseinanderliegenden blauen Augen lagen wohl Wachsamkeit als auch Arglosigkeit, und seine gebrochene Nase verlieh ihm eher das Aussehen eines Speerträgers als das eines Mediziners. Seine großen, kräftigen Hände schienen dazu geschaffen, Eisen zu biegen, doch Ibn Sina hatte gesehen, wie sie behutsam über Gesichter von Fiebernden streichelten und mit absoluter Sicherheit in lebendes Fleisch schnitten. Im Geist war er längst ein Medicus.
Ibn Sina hatte absichtlich Mirdin zuerst prüfen lassen, um die richtigen Voraussetzungen zu schaffen und weil Jesse ben Benjamin anders war als die Studenten, an die die Sachverständigen gewöhnt waren. Er besaß Eigenschaften, die bei einer akademischen Prüfung nicht zutage treten konnten. Er hatte sich in drei Jahren erstaunlich viel erarbeitet, aber seine Gelehrsamkeit war nicht so tiefschürfend wie die Mirdins. Er war aber trotz seiner Nervosität die stärkere Persönlichkeit. Der Gehilfe von Imam Qandrassehs hatte den fast unhöflichen Blick bemerkt, den Rob auf Musa Ibn Abbas warf, und der mullah begann unvermittelt mit einer politischen Frage, deren Tücken er gar nicht verbergen wollte.
»Gehört das Königreich zur Moschee oder zum Palast?« Rob antwortete nicht mit der raschen, bereitwilligen Sicherheit, die bei Mirdin so beeindruckt hatte. »Im Koran ist es festgelegt«, antwortete er in seinem nicht völlig akzentfreien Persisch. »Allah sagt in sura zwei: >Ich setze einen Vizekönig auf der Erde ein.< Und in sura achtunddreißig wird die Aufgabe des Schahs mit folgenden Worten umrissen: >Siehe, David, Wir haben dich als Vizekönig auf der Erde eingesetzt, deshalb urteile gerecht über Menschen und folge keiner Laune, damit du nicht vom Pfad Gottes abweichst.< Daher gehört das Königreich zu Gott.«
Indem er das Königreich Gott zuwies, hatte er die Wahl zwischen Qandrasseh und Alã vermieden; es war eine gute, geschickte Antwort. Der mullah widersprach ihm nicht. Ibn Sabur forderte den Kandidaten auf, den Unterschied zwischen Pocken und Masern zu
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