Medicus 01 - Der Medicus
für ihn sehr lehrreich; er hatte noch nie zuvor eine geöffnete menschliche Brust g'esehen. Während al-Juzjani das Messer in das nachgiebige Fleisch drückte und den Schnitt ein Stück unterhalb des Tumors setzte, um alles herauszuholen, quoll Blut hervor. Die Frau stöhnte, und der Chirurg arbeitete rasch, um die Operation zu beenden, bevor die Patientin aufwachte.
Das Innere der Brust enthielt Muskeln, graues Zellgewebe und Klumpen von gelblichem Fett, wie bei einem ausgenommenen Huhn. Rob konnte deutlich mehrere rosa Milchgänge erkennen, die sich wie die Arme eines Flusses, die zusammentreffen, an der Brustwarze vereinigten. Vielleicht hatte al-Juzjani einen der Gänge verletzt; rötliche Flüssigkeit quoll aus der Brustwarze wie ein Tropfen rosiger Milch. Al-Juzjani hatte den Tumor herausgeholt und vernähte schnell die Wunde. Wenn dies überhaupt möglich war, hätte Rob angenommen, daß der Chirurg diesmal nervös war.
Sie ist mit dem Schah verwandt, dachte er. Vielleicht eine Tante. Vielleicht sogar jene Frau, von der der Schah ihm in der Höhle erzählt hatte, die Tante, die Alã ins Sexualleben eingeführt hatte. Sie stöhnte, war fast völlig wach und wurde hinausgetragen, sobald die Brust geschlossen war.
Al-Juzjani seufzte. »Es gibt keine Heilung. Der Krebs wird sie letzten Endes töten, aber wir können versuchen, sein Wachstum zu verlangsamen.« Er sah Ibn Sina draußen und ging hinaus, um über die Operation zu berichten, während die Studenten im Operationssaal Ordnung machten.
Bald darauf betrat Ibn Sina den Operationssaal und sprach kurz mit Rob, dem er auf die Schulter klopfte, bevor er ihn verließ.
Rob war durch die Mitteilung des Arztes aller Ärzte verstört. Er verließ den Operationssaal und ging zum khasanat-al-sharaf, wo Mirdin gerade arbeitete. Sie trafen einander in dem Korridor, der zur Apotheke führte.
Rob las von Mirdins Gesicht genau die Gefühlsregungen ab, die auch ihn bewegten. »Du auch?«
Mirdin nickte. »In zwei Wochen?«
»Ja.« Er geriet in Panik. »Ich bin noch nicht für die Prüfung bereit, Mirdin! Du bist seit vier Jahren hier, aber bei mir sind es erst drei Jahre. Ich bin einfach noch nicht soweit.«
Mirdin vergaß seine eigene Nervosität und lächelte. »Du bist soweit. Du warst Baderchirurg, und alle, die dich unterrichtet haben, haben gesehen, was du kannst. Wir haben noch zwei Wochen, um gemeinsam zu büffeln, und dann werden wir unsere Prüfung ablegen.«
Das Abbild eines Gliedes
Ibn Sina war in einer kleinen Siedlung namens Afshanah außerhalb des Dorfes Kharmaythan zur Welt gekommen, und bald nach seiner Geburt war seine Familie in die nahe Stadt Buchara übersiedelt. Während er noch ein kleiner Junge war, vereinbarte sein Vater, ein Steuereinnehmer, daß er bei einem Lehrer des Korans und einem Lehrer der Literatur studierte, und als er zehn Jahre alt war, konnte er den ganzen Koran auswendig, und er hatte bereits viel von der mohammedanischen Kultur in sich aufgenommen. Sein Vater lernte einen gebildeten Gemüsehändler namens Mahmud der Mathematiker kennen, der dem Kind indische Mathematik und Algebra beibrachte. Bevor dem begabten Jungen die ersten Barthaare sprossen, hatte er die Eignungsprüfung in den Rechtswissenschaften erworben und sich mit Euklid sowie der Geometrie beschäftigt. Seine Lehrer bestürmten seinen Vater, ihm zu erlauben, sein Leben der Gelehrsamkeit zu widmen.
Mit elf Jahren begann er das Studium der Medizin, und als er sechzehn war, hielt er Vorträge vor älteren Ärzten.
Nebenher arbeitete er viel als Jurist. Sein ganzes Leben lang pflegte er die Juristerei und die Philosophie. Obwohl diese gelehrten Berufe in der persischen Welt hoch im Ansehen standen, erkannte er, daß für einen Menschen nichts wichtiger ist als sein Wohlergehen und die Frage, ob er leben würde oder sterben mußte.
Schon in jungen Jahren diente Ibn Sina einer Reihe von Herrschern, die seine Begabung für ihr gesundheitliches Wohl nützten, und obwohl er Dutzende Bücher über Recht und Philosophie schrieb, die ihm den liebevollen Beinamen Zweiter Lehrer eintrugen (der Erste Lehrer war Mohammed), errang er als Arzt aller Ärzte noch größere Berühmtheit und Anerkennung. Sein Ruf eilte ihm voraus, wohin er auch reiste.
In Isfahan, wo er vom politischen Flüchtling schnell zum hakim-bashi , zum Obersten der Ärzte, aufgestiegen war, gab es ein großes Angebot an Ärzten, und weitere Männer wurden ständig durch ein einfaches Verfahren zu
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