Medicus 01 - Der Medicus
der Leiche eines Kindes sah er, warum der Krebs so hieß, denn die gierige, bösartige Wucherung hatte ihre Klauen nach allen Richtungen ausgestreckt. In der Leiche eines anderen Mannes stellte er fest, daß die Leber nicht weich und satt rotbraun gefärbt war, sondern sich in ein gelbliches Organ von der Härte des Holzes verwandelt hatte. In der darauffolgenden Woche sezierte er eine seit mehreren Monaten schwangere Frau, und er skizzierte die Gebärmutter in dem sich wölbenden Bauch wie einen umgekehrten Trinkbecher, der das Leben umschloß, das sich in ihm entwickelte. In der Zeichnung verlieh er der Frau das Gesicht Despinas, die nun nie mehr ein Kind zur Welt bringen würde. Er nannte die Zeichnung >Die schwangere Frau<. Und eines Nachts saß er am Seziertisch und zeichnete einen jungen Mann, dem er Karims Züge gab; die Ähnlichkeit war unvollkommen, aber für jeden, der Karim geliebt hatte, erkennbar. Rob zeichnete seine Gestalt, als wäre die Haut aus Glas. Was er nicht selbst in dem Körper vor ihm auf dem Tisch sehen konnte, zeichnete er so, wie Galen es geschildert hatte. Er wußte, daß einige Details falsch waren, aber die Zeichnung war bemerkenswert, denn sie zeigte Organe und Blutgefäße, als blicke Gottes Auge durch das feste Fleisch des Menschen. Als die Zeichnung fertiggestellt war, signierte er sie triumphierend mit seinem Namen und dem Datum und nannte sie >Der durchsichtige Mann<.
Das Haus in Hamadhan
Während all dieser Zeit hatten sie keine Neuigkeiten vom Krieg erfahren. Und dann traf eines Nachmittags kurz vor dem vierten Gebet ein Reiter ein, der die schlimmste aller vorstellbaren Nachrichten brachte.
Wie al-Juzjani, als Masũd in Isfahan eine Marschpause einlegte, vermutet hatte, war dessen Hauptmacht schon auf die Perser gestoßen und griff sie an. Masũd hatte sein Heer unter den zwei ranghöchsten Generälen Sahl al-Hamdüni und Täsh Farräsh auf die ursprünglich erwartete Marschroute geschickt. Sie planten den Frontalangriff und führten ihn fehlerlos durch. Sie teilten ihre Streitkräfte in zwei Hälften, versteckten sich hinter dem Dorf al-Karaj und schickten die Späher aus. Als die Perser nahe genug herangekommen waren, schwenkte Sahl al-Hamdünis Truppe um eine Seite von al-Karaj herum, und Täsh Farräshs Leute kamen von der anderen Seite. Sie griffen Alã Shahanshas Truppen mit zwei Flügeln an, die sich einander rasch näherten, bis das Heer von Ghazna sich entlang einer halbkreisförmigen Kampflinie wie ein Netz zusammengezogen hatte.
Nach der anfänglichen Überraschung kämpften die Perser mutig, aber sie waren zahlenmäßig unterlegen und ausmanövriert. Sie verloren ständig an Boden. Schließlich entdeckten sie, daß sich in ihrem Rücken eine weitere Truppe unter der Führung von Sultan Masũd näherte. Nun wurde der Kampf immer verzweifelter und wilder, und das Ende war unvermeidlich. Die überlegenen Streitkräfte der beiden Ghazna-Generäle standen den Persern gegenüber. Im Rücken hatten sie die zahlenmäßig kleinere, aber wilde Kavallerie des Sultans. Die Afghanen schlugen immer wieder zu und verschwanden, um an einem anderen Kampfabschnitt wieder aufzutauchen.
Als die Perser schließlich hinreichend geschwächt und demoralisiert waren, setzte Masũd unter dem Schutz eines Sandsturmes zum Totalangriff seiner drei Truppen an.
Am nächsten Morgen durchdrang die Sonne den über dem größten Teil des persischen Heeres wirbelnden Sand.
Einige seien entkommen, und es hieß, daß Alã Shahansha sich unter ihnen befinde, berichtete ein Kurier, aber das sei nicht sicher. »Was ist aus Ibn Sina geworden?« fragte al-Juzjani. »Ibn Sina hat die Armee lange vor der Ankunft in al-Karaj verlassen, Hakim«, sagte der Kurier. »Er wurde von einer schrecklichen Kolik geplagt, die ihn hilflos niederwarf. Deshalb brachte ihn der jüngste Arzt seiner Feldschere, ein gewisser Bibi al-Ghüri, in die Stadt Hamadhan, wo Ibn Sina noch das Haus seines Vaters besitzt.«
»Ich kenne das Haus«, bestätigte al-Juzjani.
Rob wußte, daß al-Juzjani hinreisen würde. »Laßt mich mitkommen!« bat er ihn.
Einen Moment lang sprach aus den Augen des älteren Arztes Eifersucht, doch die Vernunft siegte schnell, und er nickte. »Wir werden uns sofort auf den Weg machen«, beschloß er.
Sie mußten einen Umweg nach Osten in Kauf nehmen, um den Kämpfen auszuweichen, die, soviel sie wußten, noch in der Umgebung von Hamadhãn ausgefochten wurden. Aber als sie die Hauptstadt erreichten,
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