Medicus 01 - Der Medicus
behandeln. Als nächstes führte er einen untersetzten Mann mit einer Glatze und milchigen Augen hinter den Wandschirm. »Wie lange bist du schon blind?« fragte der Bader. »Seit zwei Jahren. Es begann damit, dass ich alles verschwommen sah, und allmählich verschlimmerte es sich dann, bis ich jetzt kaum einen Lichtschimmer wahrnehmen kann. Ich bin Schreiber, kann aber nicht arbeiten.«
Der Bader schüttelte den Kopf, da er vergaß, dass der Blinde diese Geste gar nicht sehen konnte. »Ich kann dir ebenso wenig die Sehkraft wiedergeben wie deine Jugend.«
Der Schreiber ließ sich wegführen. »Es ist eine bittere Erkenntnis«, sagte er zu Rob, »nie wieder sehen zu können.« Ein in der Nähe stehender magerer Mann mit scharfgeschnittenem Gesicht und Adlernase hörte ihrem Gespräch zu und blickte sie an. Sein Haar und Bart leuchteten weiß, aber er war noch jung, etwa doppelt so alt wie Rob.
Er trat vor und legte dem Patienten die Hand auf den Arm. »Wie heißt Ihr?« Er sprach mit einem französischen Akzent, wie ihn Rob oft von Normannen im Londoner Hafen gehört hatte. »Ich bin Edgar Thorpe«, stellte sich der Schreiber vor. »Ich bin Benjamin Merlin, Medicus im nahegelegenen Tettenhall. Darf ich mir Eure Augen ansehen, Edgar Thorpe?«
Der Schreiber nickte blinzelnd. Der Mann hob die Lider mit dem Daumen hoch und studierte die weißliche Trübung. »Ich kann Euch den Star stechen und die trübe Linse entfernen«, versprach er schließlich. »Ich habe diese Operation schon durchgeführt, aber Ihr müsst stark sein, um den Schmerz zu ertragen.«
»Den Schmerz fürchte ich nicht«, flüsterte der Schreiber. »Dann müsst Ihr Euch am nächsten Dienstag frühmorgens nach Tettenhall in mein Haus bringen lassen«, beschied ihm der Mann und wandte sich ab.
Rob stand wie vom Blitz getroffen da. Er war nie auf die Idee gekommen, dass jemand etwas versuchen könnte, was des Baders Können überstieg.
»Magister Medicus!« Er lief dem Mann nach. »Wo habt Ihr das gelernt... Augen zu stechen?«
»Auf einer Akademie, einer Schule für Ärzte.«
»Wo gibt es diese Schule für Ärzte?«
Merlin sah einen großen Jungen in schlecht geschnittener Kleidung vor sich, die ihm zu klein war. Sein Blick erfasste den grellbunten Wagen und das Podium, auf dem Jonglierbälle lagen und Fläschchen standen mit einem Heilmittel, dessen Art er leicht erraten konnte.
»Eine halbe Welt von hier entfernt«, gab er freundlich Auskunft. Er ging zu einer angebundenen schwarzen Stute, schwang sich auf sie und ritt weg, ohne zurückzublicken.
Rob erzählte dem Bader später von Benjamin Merlin, während Tatus ihren Wagen bedächtig aus Leicester hinauszog. Der Bader nickte. »Ich habe von ihm gehört. Der Medicus von Tettenhall.«
»Ja. Er sprach wie ein Franzose.«
»Er ist ein Jude aus der Normandie.«
»Was ist ein Jude?«
»Ein anderer Name für einen Hebräer, das biblische Volk, das Jesus getötet hat und von den Römern aus dem Heiligen Land vertrieben wurde.«
»Er hat von einer Schule für Ärzte gesprochen.«
»Manchmal hält man so einen Lehrgang am College in Westminster ab. Er gilt allgemein als beschissener Lehrgang, der beschissene Ärzte hervorbringt. Die meisten von ihnen arbeiten als Gehilfen bei einem Medicus, um von ihm geschult zu werden, so wie du den Beruf eines Baders erlernst.«
»Ich glaube nicht, dass er Westminster gemeint hat. Er hat gesagt, dass die Schule weit entfernt ist.«
Der Bader zuckte mit den Achseln. »Vielleicht befindet sie sich in der Normandie oder der Bretagne. Es gibt massenhaft Juden in Frankreich, und manche sind hierher gekommen, darunter natürlich auch Ärzte.«
»Ich habe von Hebräern in der Bibel gelesen, hatte aber noch nie einen gesehen.«
»Es gibt noch einen jüdischen Medicus in Malmesbury, Isaak Adoles-centoli heißt er. Ein berühmter Arzt.
Vielleicht bekommst du ihn zu Gesicht, wenn wir nach Salisbury kommen«, sagte der Bader. Malmesbury und Salisbury lagen im Westen von England. »Dann können wir also nicht nach London?«
»Nein.« Der Bader hatte einen Unterton in der Stimme seines Lehrlings gehört und wusste längst, dass der Junge sich nach seinen Verwandten sehnte. »Wir fahren geradewegs nach Salisbury«, entgegnete er streng, »um den Umstand auszunützen, dass bei dem Jahrmarkt in Salisbury viele Menschen zusammenkommen. Von dort fahren wir nach Exmouth, denn dann wird es langsam Herbst. Verstehst du?« Rob nickte.
»Aber im Frühjahr, wenn wir wieder
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