Medicus 01 - Der Medicus
bewußt, aber der Stich musste kräftig gewesen sein, denn er spürte, dass die Dolchspitze auf einen Knochen stieß. Als er die Klinge aus dem Fleisch zog, sprudelte aus der Wunde sofort Blut hervor. Rob wunderte sich, dass so viel Blut so rasch aus einem so spindeldürren Menschen austreten konnte.
Der Taschendieb trat zurück und hielt sich den verwundeten Arm. »Komm!« rief ihm der Bader zu. »Wir werden dich verbinden. Es passiert dir nichts mehr.«
Aber der Mann lief schon um die Ecke des Wagens und war gleich darauf verschwunden.
»So viel vergossenes Blut muss auffallen. Wenn sich Leute des Vogts in der Stadt aufhalten, werden sie ihn festnehmen, und er könnte sie zu uns führen. Wir müssen so rasch wie möglich von hier fort«, bestimmte der Bader.
Sie flüchteten wie damals, als sie den Tod eines Kranken befürchtet hatten, und hielten erst an, als sie sicher waren, dass ihnen niemand folgte.
Rob entfachte ein Feuer, setzte sich, noch als alter Mann verkleidet und zu müde, um sich umzuziehen, davor, und sie aßen kalte Rüben, die von der Mahlzeit des Vortags übriggeblieben waren. »Wir waren zu zweit«, stellte der Bader angewidert fest. »Wir hatten ihn leicht loswerden können.«
»Er hat eine Lehre verdient.«
Der Bader sah ihn an. »Hör mal zu!« sagte er. »Du bist zu einer Gefahr geworden.«
Rob nahm ihm die Ungerechtigkeit übel, denn er hatte nur eingegriffen, um den Bader zu beschützen. Neuer Zorn stieg in ihm auf und dazu alter Groll. »Ihr habt niemals etwas für mich aufs Spiel gesetzt. Ihr verdient nicht mehr unser Geld - das tue ich. Ich verdiene mehr für Euch, als der Dieb mit seinen langen Fingern je zusammenbekommen hätte.«
»Eine Gefahr, der man auch noch verpflichtet ist«, antwortete der Bader müde und wandte sich ab.
Sie erreichten den nördlichsten Abschnitt ihrer Reiseroute und hielten in Grenzweilern, in denen die Einwohner nicht genau wussten, ob sie Engländer oder Schotten waren. Wenn Rob und der Bader vor dem Publikum spielten, zogen sie einander auf und arbeiteten in scheinbarer Harmonie, aber wenn sie nicht auf dem Podium standen, herrschte zwischen ihnen eisiges Schweigen. Wenn sie dennoch ein Gespräch begannen, wurde daraus bald ein Streit.
Der Bader wagte längst nicht mehr, die Hand gegen Rob zu erheben, aber wenn er betrunken war, hielt er nach wie vor seine lästerliche, scharfe Zunge, die keine Rücksicht kannte, nicht im Zaum. Eines Nachts in Lancaster schlugen sie ihr Lager bei einem Teich auf, aus dem mondheller Nebel wie blasser Rauch emporstieg. Sie wurden von einem ganzen Heer kleiner, fliegenartiger Insekten geplagt und suchten ihre Zuflucht beim Trinken.
»Warst immer ein großer, schwerfälliger Tölpel: der junge Sir Misthaufen.« Rob seufzte.
»Ich habe ein verwaistes Arschloch aufgenommen... ihn erzogen... Ohne mich läge er in der Gosse.« Er würde bald beginnen, auf eigene Faust als Baderchirurg zu arbeiten, beschloss Rob. Er hatte lange gebraucht, um zu dem Schluß zu gelangen, dass sein Weg sich von dem des Baders trennen mußte. »Ungeschickt und dumm. Wie habe ich mich anstrengen müssen, um ihm das Jonglieren beizubringen!«
Rob kroch wieder in den Wagen, um seinen Becher von neuem zu füllen, aber die schreckliche Stimme folgte ihm. »Verdammt, bring mir auch einen Becher!«
Verdammt noch mal, holt ihn Euch doch selbst! wollte er schon antworten. Statt dessen kroch er, von einem unwiderstehlichen Drang erfaßt, zu der Stelle, wo die Spezialabfüllung aufbewahrt wurde. Er nahm eine Flasche und hielt sie sich vor die Augen, bis er die eingeritzten Zeichen fand, die auf den besonderen Inhalt hinwiesen.
Dann kroch er aus dem Wagen, entkorkte die Tonflasche und reichte sie dem dicken Mann.
Ich bin niederträchtig, dachte er voll Angst. Aber nicht niederträchtiger als der Bader, der im Laufe der Jahre so vielen Menschen seine Spezialabfüllung gegeben hat.
Gebannt sah er zu, wie der Bader die Flasche nahm, den Kopf in den Nacken legte, den Mund öffnete, sie an die Lippen führte und gierig austrank.
Warum empfand er keine Schadenfreude? Eine trübsinnige, schlaflose Nacht lang dachte er darüber nach. Wenn der Bader nüchtern war, vereinte er zwei Männer in sich, einen freundlichen, fröhlichen, herzensguten und einen gemeinen Menschen, der, ohne zu zögern, die Spezialabfüllung austeilte. Wenn er betrunken war, kam fraglos nur der gemeine Mann zum Zuge.
Rob sah mit plötzlicher Klarheit, wie einen Lichtstrahl auf dem
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