Medicus 02 - Der Schamane
zogen ihre Schlüsse. Cooke war der Sohn eines Futtermittel- und Getreidehändlers und, seiner Kleidung und seinem Gepäck nach zu urteilen, sehr wohlhabend. Shaman merkte, dass er daran gewöhnt war, den Narren zu spielen, vielleicht wegen seiner Körperfülle. Aus seinen braunen Augen strahlte jedoch eine wache Intelligenz, der nichts entging. Billy Henried war mager und still. Er erzählte ihnen, er sei auf einer Farm in der Nähe von Columbus aufgewachsen und habe zwei Jahre lang ein Theologieseminar besucht, bevor er zu der Einsicht kam, dass der Priesterberuf nichts für ihn sei. Ruel Torrington, der erst nach dem Abendessen eintraf, war eine Überraschung: Er war doppelt so alt wie seine Zimmerkollegen und bereits ein erfahrener Mediziner. Nachdem er schon in jungen Jahren bei einem Arzt in die Lehre gegangen war, hatte er jetzt beschlossen, Medizin zu studieren, um wirklich ein »Doktor« zu sein. Die drei anderen in 2-B freuten sich anfangs über sein Vorleben, da sie glaubten, es könne nur von Vorteil sein, gemeinsam mit einem erfahrenen Arzt zu studieren, doch Ruel Torrington war schlechter Stimmung, als er ankam, und seine Laune änderte sich auch nicht, solange sie ihn kannten. Es war nur noch das oberste Bett an der Wand frei, aber das behagte Torrington nicht. Er ließ es sich deutlich anmerken, dass er Cooke nicht mochte, weil der fett war, Shaman nicht, weil er taub war, und Henried nicht, weil er Katholik war. Seine Feindseligkeit schweißte die drei anderen von Anfang an zu einer Allianz zusammen, und sie ließen ihn bald links liegen. Cooke war schon mehrere Tage in Cincinnati und hatte einige Dinge in Erfahrung gebracht, die er nun den anderen mitteilte. Der Lehrkörper der Schule stehe allgemein in hohem Ansehen, doch es gebe zwei Sterne an diesem akademischen Firmament, die alle anderen überstrahlten. Der eine sei der Professor für Chirurgie, Dr. Berwyn, der auch als Dekan fungierte, der andere Dr. Barnett A. McGowan, ein Pathologe, der das gefürchtete Fach »A&P« unterrichtete, Anatomie und Physiologie. »Hinter seinem Rücken nennen sie ihn Barney«, vertraute Cooke den anderen an. »Angeblich fallen bei ihm mehr Studenten durch als bei allen anderen Lehrern zusammen.«
Am nächsten Morgen ging Shaman zu einer Sparkasse und zahlte den Großteil des Geldes, das er mitgebracht hatte, auf ein Konto ein. Zusammen mit seinem Vater hatte er seinen finanziellen Bedarf sehr sorgfältig geplant. Das Schulgeld belief sich auf sechzig Dollar pro Jahr beziehungsweise fünfzig Dollar, wenn im voraus bezahlt wurde. Dazu kamen das Geld für Unterkunft, Verpflegung und Fahrten sowie andere Ausgaben. Rob J. hätte seinem Sohn gern alles Notwendige bezahlt, aber Shaman hatte hartnäckig darauf bestanden, sein Medizinstudium selbst zu finanzieren, da es seine Idee gewesen war. Sie einigten sich schließlich auf einen Vertrag, in dem Shaman versprach, nach seiner Promotion jeden Dollar zurückzuzahlen. Von der Sparkasse ging er direkt zum Kämmerer der Schule, um das Schulgeld zu bezahlen. Es ermunterte ihn nicht gerade, als der ihm erklärte, wenn er aus gesundheitlichen Gründen die Schule wieder verlassen müsse, könne ihm das Geld nur teilweise zurückerstattet werden.
Die erste Vorlesung, die er als Medizinstudent besuchte, war ein einstündiger Vortrag über Frauenleiden. Schon im College hatte Shaman die Erfahrung gemacht, dass es für ihn sehr wichtig war, früh zu erscheinen, um einen Platz weit vorne zu bekommen, von dem aus er gut von den Lippen ablesen konnte. Er war deshalb so früh im Hörsaal, dass er einen Platz in der ersten Reihe bekam, und das war ein Glück, denn Professor Harold Meigs trug sehr schnell vor. Shaman hatte gelernt, sich Notizen zu machen, ohne auf das Papier zu sehen Er schrieb sorgfältig, weil er wusste, dass Rob J. seine Skripten würde lesen wollen, um zu sehen, was es in der Medizinerausbildung Neues gab.
In der nächsten Stunde, Chemie, zeigte es sich, dass er genügend Laborerfahrung für das Medizinstudium hatte. Das freute ihn und regte seinen Appetit sowohl auf das Mittagessen wie auf die Arbeit an. Im Speisesaal des Krankenhauses schlang er einige Kräcker und eine Fleischsuppe hinunter, die alles andere als köstlich war. Dann eilte er in Cruikshank’s Bookstore, die Buchhandlung, die die Medical School belieferte. Dort lieh er sich ein Mikroskop aus und kaufte die Bücher, die er brauchte: Dunglisons »Grundlagen der Therapeutik und Materia Medica«,
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