Medicus 02 - Der Schamane
schwieriger war es, mit den Fragen zurechtzukommen, die ihn verfolgten: warum in aller Welt er hier war und wie dieser schreckliche Bürgerkrieg ausgehen würde. Die Sache verlief weiterhin schlecht für die Nordstaaten. »Wie sollen wir bei unseren Verlusten denn je den Krieg gewinnen?« bemerkte Major G. H. Woffenden in einem verhältnismäßig nüchternen Moment.
Die meisten Soldaten um Rob J. herum tranken in ihrer Freizeit unmäßig - vor allem nach dem Zahltag. Sie tranken, um zu vergessen, um sich zu erinnern, um zu feiern, um sich zu trösten. Die verdreckten und oft besoffenen Männer erinnerten ihn an Bluthunde an der Leine, die es nicht erwarten können, ihren Feinden an die Kehle zu gehen -anderen Amerikanern, die zweifellos ebenso verdreckt und ebensooft besoffen waren. Warum schienen sie so erpicht darauf, Konföderierte zu töten? Die wenigsten kannten einen Südstaatler. Rob J. stellte fest, dass der Krieg für sie eine Bedeutung gewonnen hatte, die weit über Gründe und Ursachen hinausging. Sie dürsteten danach zu kämpfen, weil es nun einmal Krieg gab - und weil es offiziell für bewundernswert und patriotisch erklärt worden war zu töten. Das genügte. Er hätte sie am liebsten angeschrien, die Generäle und Politiker in ein dunkles Zimmer gesperrt wie ungezogene Kinder, sie am Schlafittchen gepackt und geschüttelt und gefragt: »Was ist mit euch los? Was ist mit euch los?« Statt dessen hielt er jeden Tag Sprechstunde ab, teilte Brechwurz, Chinin und schmerzstillende Mittel aus und achtete darauf, beim Gehen immer auf den Boden zu sehen - wie ein Mann, der in einem riesigen Zwinger wohnt.
An seinem letzten Tag beim 106. Kansas-Regiment holte Rob J. beim Zahlmeister seine achtzig Dollar ab, ging zu dem kegelförmigen Zelt, in dem er gewohnt hatte, hängte sich das mee-shome über die Schulter und nahm seinen Koffer. Major G. H. Woffenden, der, in seinen Gummiumhang gewickelt, zusammengerollt auf dem Boden lag, öffnete nicht einmal die Augen - geschweige denn, dass er den »Herrn Assistenzarzt« verabschiedete. Fünf Tage zuvor waren die Männer des 67. Pennsylvania an Bord von Dampfschiffen gegangen und einem Gerücht zufolge südwärts zu einem Kriegsschauplatz gebracht worden. Und jetzt spien andere Schiffe das 119. Indiana aus, das seine Zelte dort aufstellte, wo noch kurz vorher die des 67. Regiments gestanden hatten. Als Rob J. den kommandierenden Offizier aufsuchte, sah er sich einem pausbäckigen Colonel in den Zwanzigern gegenüber, Alonzo Symonds, der ihm erklärte, er suche dringend einen Arzt: Seiner habe eine dreimonatige Dienstzeit abgeleistet und sei nach Indiana zurückgekehrt, einen Assistenten habe er nicht gehabt. Symonds befragte Dr. Cole eingehend und schien beeindruckt von dem, was er erfuhr, doch als Rob J. andeutete, dass bestimmte Bedingungen erfüllt werden müssten, wenn er unterschreiben solle, verdüsterte sich die Miene des Colonels. Rob J. hatte über seine Sprechstunden gewissenhaft Protokoll geführt. »An fast jedem Tag lagen sechsunddreißig Prozent der Männer entweder flach oder standen Schlange, um sich von mir behandeln zu lassen. Manchmal war der Prozentsatz noch höher. Wie verhält es sich im Vergleich dazu mit Ihrer täglichen Krankenliste?«
»Die ist auch sehr lang«, gab Symonds zu. »Ich kann das ändern, Colonel, wenn Sie mir helfen.« Symonds war erst seit vier Monaten Colonel. Seine Familie besaß in Fort Wayne eine Glasfabrik für Lampenzylinder, und er wusste, wie schlecht kranke Arbeiter fürs Geschäft sein können. Das 119. Indiana war vor vier Monaten aus unerfahrenen Männern zusammengestellt und innerhalb von Tagen nach Tennessee abkommandiert worden. Er schätzte sich glücklich, dass sie nur zwei Scharmützel ausgetragen hatten, die die Bezeichnung Feindberührung verdienten. Die Verluste hatten sich auf zwei Tote und einen Verletzten beschränkt, aber ständig lagen so viele Männer mit Fieber darnieder, dass die Konföderierten das Regiment ohne Schwierigkeiten hätten niederwalzen können, wenn sie es gewusst hätten. »Was muss ich tun?«
»Ihre Männer errichten ihre Zelte auf den Scheißhaufen der 67. Pennsylvania Volunteers, und sie trinken Wasser, das durch ihre eigenen Ausscheidungen verseucht ist. Weniger als eine Meile entfernt liegt ein braches Gelände mit Quellen, die den ganzen Winter über sauberes Trinkwasser liefern könnten, wenn man sie in Rohre fasst.«
»Gütiger Gott! Eine Meile ist ein weiter Weg, um mit
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