Medicus 03 - Die Erben des Medicus
davongeflogen, so wie R.J. sich als Kind immer vorgestellt hatte, daß die Seele eines Sterbenden sich, von der Welt befreit, in die Lüfte erhebt. Sie bedeckte die Asche mit Erde und stampfte den Boden behutsam fest Um zu verhindern, daß ein Tier die Asche wieder ausgrub, suchte sie nach einem geeigneten Stein. Schließlich fand sie im Fluß einen runden, von der Strömung glattgeschliffenen Felsbrocken, der fast zu schwer für sie war. Doch unter mehrmaligem Absetzen schaffte sie es, ihn zur Grabstelle zu schleppen und auf die festgestampfte Erde zu legen. Jetzt war Betts Teil dieses Landes, und das komische war, daß R.J. immer stärker das Gefühl hatte, in vieler Hinsicht ebenfalls Teil dieses Landes zu sein.
Die nächsten Tage verbrachte sie damit, zu recherchieren, Informationen zu sammeln, sich Notizen zu machen, mit Zahlen und Schätzungen zu jonglieren. David Markus erwies sich als großer, stiller Mann Ende Vierzig, mit zerfurchten, ein wenig zerknautschten Zügen, recht interessant auf eine Lincolnsche Art. (Wie hatte man Lincoln nur häßlich nennen können, dachte sie.) Er hatte ein großflächiges Gesicht, eine vorstehende, leicht gebogene Nase, eine Narbe im linken Winkel seiner Oberlippe und sanfte, häufig belustigt aufblitzende blaue Augen. Sein Geschäftsanzug bestand aus einer ausgewaschenen Jeans und einer Jacke der New England Patriots . Die dichten, graumelierten braunen Haare trug er zu einem unmöglichen Pferdeschwanz zusammengebunden.
Sie ging ins Rathaus und sprach mit einer Gemeinderätin namens Janet Cantwell, einer knochigen, älteren, müde dreinblickenden Frau in abgerissenen Jeans, die noch schäbiger als die von Markus waren, und einem Männerhemd mit hochgekrempelten Ärmeln. R.J. ging die Main Street von einem Ende zum anderen ab, musterte die Häuser und die Leute, die ihr unterwegs begegneten, beobachtete den Verkehrsfluß. Sie fuhr zum Krankenhaus in Greenfield und redete mit dem ärztlichen Direktor, setzte sich dann in die Cafeteria und redete mit den Ärzten, die dort zu Mittag aßen.
Dann packte sie ihre Reisetasche, stieg ins Auto und fuhr Richtung Boston. Je weiter sie sich von Woodfield entfernte, desto stärker wurde das Gefühl, daß sie dorthin zurückkehren mußte. Bis jetzt hatte sie, wenn sie hörte, jemand verspüre eine Berufung , diese Formulierung immer als romantische Übertreibung abgetan. Nun aber merkte sie, daß man durchaus von etwas so stark in den Bann gezogen werden konnte, daß man sich nicht mehr dagegen zu wehren vermochte. Das schönste daran war jedoch, daß das, was sie in den Bann zog, ihr eine ausgezeichnete Möglichkeit bot, ihrem Leben neue Gestalt und einen neuen Sinn zu geben.
Ihr blieben noch einige Tage Urlaub, und die nutzte sie, um sich zusammenzuschreiben, was sie alles erledigen mußte. Und um Pläne zu machen.
Schließlich rief sie ihren Vater an und bat ihn, sich einen Abend für sie Zeit zu nehmen.
Ein Abstecher in die Rechtswissenschaft
Mit ihrem Vater hatte R.J. von der Zeit ihrer frühesten Erinnerungen bis zu ihrem Erwachsenwerden immer gestritten. Dann war etwas Schönes und Gutes eingetreten, ein gleichzeitiges sanfter werden und Aufblühen der Gefühle. Er fand zu einer anderen Art von Stolz auf seine Tochter, zu einer Neubewertung der Gründe, warum er sie liebte. Und sie gelangte zu der Erkenntnis, daß er ihr auch in den Jahren, in denen sie nur wütend auf ihn gewesen war, nie seine Unterstützung entzogen hatte.
Dr. Robert Jameson Cole war Inhaber des Regensberg-Lehrstuhls für Immunologie an der Boston University School of Medicine. Diese Professur war zwar von einem entfernten Verwandten von ihm gegründet worden, R.J. hatte aber noch nie erlebt, daß er verlegen geworden wäre, wenn jemand diese Tatsache erwähnte. Als dieser Lehrstuhl gegründet wurde, war Robert J. noch ein kleiner Junge gewesen, und Professor Cole war in seinem Bereich eine solche Kapazität, daß es niemandem in den Sinn gekommen wäre, seine Berufung könnte andere Gründe gehabt haben als seine Fähigkeiten und Leistungen. Er war ein Mensch, der mit starkem Willen Großes leisten konnte. R.J. erinnerte sich, wie ihre Mutter einmal zu einer Bekannten gesagt hatte, die erste Trotzreaktion ihrer Tochter gegen Professor Cole sei es gewesen, als Mädchen auf die Welt zu kommen. Er hatte fest mit einem Jungen gerechnet. Seit Jahrhunderten wurden die erstgeborenen Söhne der Coles auf den Namen Robert getauft und erhielten einen zweiten
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