Medicus 03 - Die Erben des Medicus
der trotzigen Ankündigung, daß sie im College ein Jura - Vorstudium aufnehmen werde. Als Tochter eines Professors hätte sie die Boston University besuchen können, ohne Studiengebühren bezahlen zu müssen. Aber sie brach aus der jahrhunderte langen Medizinertradition der Coles aus, indem sie ein Dreiviertelstipendium für die Tufts University gewann, in einer Studentenmensa Tische abräumte und zwei Abende pro Woche in dem Club am Harvard Square arbeitete. Die Law School besuchte sie dann allerdings an der Boston University. Zu dieser Zeit hatte sie bereits eine eigene Wohnung am Beacon Hill, hinter dem State House. Ihren Vater besuchte sie regelmäßig, aber sie lebte jetzt ihr eigenes Leben.
Sie war Jurastudentin im dritten Jahr, als sie Charlie Harris kennenlernte - Charlie Harris, M. D., ein langer, schlaksiger junger Mann, dem die Hornbrille unweigerlich an der langen Nase herunterrutschte und seinen freundlichen bernsteinfarbenen Augen einen etwas verwirrten Blick verlieh. Er begann damals gerade seine Assistenzzeit als Chirurg. R.J. hatte noch nie jemanden kennengelernt, der gleichzeitig so ernst und so lustig sein konnte wie er. Sie lachten viel miteinander, aber sein Humor hörte bei seiner Arbeit auf. Er beneidete R.J., weil sie so mühelos ein Stipendium bekommen und weil sie richtig Spaß an Prüfungen hatte und dabei auch immer sehr gut abschnitt. Er war intelligent und hatte alle Anlagen für einen Chirurgen, aber das Lernen fiel ihm schwer, und Erfolg hatte er nur, weil er sich unermüdlich abrackerte: »Muß mich ums Geschäft kümmern, R.J.« Sie saß im Juristischen Repetitorium, er hatte Bereitschaft. Beide waren immer müde und schlafbedürftig, und ihre Terminpläne machten es ihnen schwer, einander zu sehen. Nach ein paar Monaten gab sie die Wohnung am Beacon Hill auf und zog zu ihm in den umgebauten Stall an der Charles Street, die billigere ihrer beiden Wohnungen.
Drei Monate vor ihren Abschlußprüfungen an der Law School merkte sie, daß sie schwanger war. Zuerst waren sie und Charlie entsetzt darüber, aber schon bald strahlten sie bei dem Gedanken, Eltern zu werden, und sie beschlossen, sofort zu heiraten. Doch einige Tage später, Charlie stand eben im Desinfektionsraum am Waschbecken und bereitete sich auf eine Operation vor, krümmte er sich plötzlich vor Schmerzen im unteren linken Abdominalquadranten. Eine Untersuchung ergab, daß er Nierensteine hatte, die zu groß waren, um auf natürlichem Weg abzugehen, und binnen vierundzwanzig Stunden lag er als Patient in seinem eigenen Krankenhaus. Ted Forester, der beste Chirurg der Abteilung, führte die Operation durch. Die erste postoperative Phase schien Charlie gut zu überstehen, er konnte allerdings kein Wasser lassen. Als er nach achtundvierzig Stunden immer noch nicht uriniert hatte, ordnete Dr. Forester eine Katheterisierung an, und ein Assistenzarzt führte den Katheter ein, der Charlie sofortige Erleichterung brachte. Binnen zwei Tagen war allerdings die Niere infiziert. Trotz Antibiotikagaben breitete sich die Staphylokokkeninfektion im Blutkreislauf aus und setzte sich in einer Herzklappe fest. Vier Tage nach der Operation saß R.J. neben seinem Bett im Krankenhaus. Sie sah deutlich, daß er sehr krank war. Sie hatte hinterlassen, daß sie Dr. Forester nach der Visite sprechen wolle, und sie wollte auch Charlies Familie in Pennsylvania anrufen, damit seine Eltern mit dem Arzt reden konnten, falls sie wollten.
Charlie stöhnte, und sie stand auf und wusch sein Gesicht mit einem nassen Tuch. »Charlie?«
Sie nahm seine Hände in die ihren, beugte sich über ihn und betrachtete sein Gesicht. Da ereignete sich etwas. Irgend etwas strömte von seinem Körper in ihren über, wurde ihr bewußt. Sie konnte sich nicht erklären, wie oder warum. Sie bildete es sich nicht ein, sie wußte, es war wirklich so. Auf eine Art, die sie nicht verstand, wurde ihr plötzlich bewußt, daß sie beide nicht miteinander alt werden würden. Sie konnte seine Hände nicht loslassen, nicht weglaufen, nicht einmal weinen. Sie blieb einfach, wo sie war; über ihn gebeugt, hielt sie seine Hände fest, als könne sie ihn zurückholen, und prägte sich seine Gesichtszüge ein, solange sie noch Zeit dazu hatte.
Charlie wurde in einem großen, häßlichen Friedhof in Wilkes-Barre beerdigt. Nach dem Begräbnis saß R.J. in einem Plüschsessel im Wohnzimmer seiner Eltern und ließ die Blicke und die Fragen von Fremden über sich ergehen, bis sich ihr eine
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