Medicus 03 - Die Erben des Medicus
Vornamen, der mit dem Buchstaben J. begann. Dr. Cole hatte sehr ernsthaft über diese Tradition nachgedacht und schließlich für seinen Jungen den Namen Robert Jenner Cole ausgewählt - Jenner zu Ehren jenes Edward Jenner, der die Pockenschutzimpfung begründet hatte. Als das Neugeborene dann ein Mädchen war und klar wurde, daß seine Frau Bernadette Valerie nie wieder einem Kind das Leben schenken können würde, beharrte Dr. Cole darauf, daß man die Tochter Roberta Jenner Cole taufte und Rob J. rief. Das war eine weitere Familientradition: Wurde das Kind zum neuen Rob J. erkoren, bedeutete das die Ankündigung, daß der Familie Cole ein weiterer Arzt geboren worden war. Bernadette Cole hatte sich seinen Wünschen gefügt bis auf den zweiten Vornamen. Kein Männername für ihre Tochter! Sie hatte sich ihrer nordfranzösischen Wurzeln erinnert und durchgesetzt, daß das Mädchen schließlich Roberta Jeanne d'Arc Cole getauft wurde. Auch der Versuch Dr. Coles, für seine Tochter den Rufnamen Rob J. zu etablieren, schlug fehl, denn bald war sie für ihre Mutter und alle, die sie kannten, nur noch R.J., auch wenn ihr Vater es sich nicht nehmen ließ, sie bei zärtlichen Anwandlungen Rob J. zu nennen.
R.J. wuchs in einer komfortablen Wohnung im ersten Stock eines Backsteinhauses in der Beacon Street auf, mit riesigen Magnoliensträuchern vor dem Eingang. Dr. Cole gefiel es dort, weil nur wenige Türen weiter das Backsteinhaus stand, in dem Oliver Wendell Holmes gewohnt hatte, seiner Frau gefiel es, weil für die Wohnung Mietpreisbindung bestand und sie deshalb mit einem Dozentengehalt zu bezahlen war. Aber als sie drei Tage nach dem elften Geburtstag ihrer Tochter an Lungenentzündung starb, war die Wohnung für die Restfamilie plötzlich zu groß.
R.J. hatte staatliche Halbtagsschulen besucht, aber nach dem Tod ihrer Mutter war ihr Vater der Meinung, sie brauche mehr Kontrolle und Ordnung in ihrem Leben, als er ihr bieten konnte, und er schrieb sie in einer Tagesschule in Cambridge ein, zu der sie mit dem Bus fuhr. Seit ihrem siebten Lebensjahr spielte sie Klavier, aber mit zwölf nahm sie in der Schule auch Unterricht in klassischer Gitarre, und schon nach wenigen Jahren hing sie am Harvard Square herum, um zusammen mit anderen Straßenmusikanten zu spielen und zu singen. Auf der Gitarre war sie sehr gut, ihre Stimme schien zwar nicht die allerbeste, aber sie erfüllte ihren Zweck. Mit fünfzehn verleugnete sie ihr wahres Alter und wurde singende Kellnerin in dem Club, in dem Joan Baez, ebenfalls Tochter eines Bostoner Universitätsprofessors, ihre Karriere begonnen hatte. In diesem September hatte R.J. zum erstenmal Sex, mit dem Schlagmann der MIT-Rudermannschaft auf dem Dachboden des MIT-Bootshauses. Es war unappetitlich und schmerzhaft, und diese Erfahrung nahm ihr die Lust am Sex, aber nicht für immer. Nicht einmal für lange.
R.J. war der Überzeugung, daß der zweite Vorname, den ihre Mutter für sie ausgesucht hatte, ihr Leben stark beeinflußte. Von Kindheit an war sie immer bereit, für eine Sache zu kämpfen. Und obwohl sie ihren Vater inbrünstig liebte, stritt sie sich doch sehr häufig mit ihm. Seine Sehnsucht nach einem Rob J., der in seine medizinischen Fußstapfen treten würde, übte einen ständigen Druck auf sein einziges Kind aus. Wäre dem nicht so gewesen, hätte Roberta vielleicht einen anderen Lebensweg eingeschlagen. Wenn sie nachmittags allein in die stille Wohnung an der Beacon Street zurückkam, ging sie manchmal in sein Arbeitszimmer und zog seine Bücher aus dem Regal. Sie studierte die Sexualorgane der Männer und Frauen und schlug jene Dinge nach, über die ihre Klassenkameraden flüsterten und kicherten. Bald jedoch wurde daraus eine von der frühpubertären Lust nicht mehr beeinflußte Beschäftigung mit Anatomie und Physiologie; so wie einige ihrer Schulkameraden sich für die Namen von Dinosauriern interessierten, lernte R.J. die Knochen des menschlichen Körpers auswendig. Auf dem Tisch im Arbeitszimmer ihres Vaters befand sich in einem kleinen Eichenkästchen mit Glasdeckel ein altes Skalpell aus gehämmertem blauem Stahl. Die Familienlegende besagte, daß dieses Skalpell vor vielen hundert Jahren einem von R.J.'s Vorfahren, einem berühmten Chirurgen, gehört hatte. Manchmal erschien es ihr als durchaus sinnvolle Lebensaufgabe, als Arzt Menschen zu helfen, aber ihr Vater drängte sie zu sehr in diese Richtung, und als es soweit war, trieb er sie mit seinen Erwartungen zu
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