Medicus 03 - Die Erben des Medicus
Möglichkeit zur Flucht bot. In der winzigen Toilette des Flugzeugs, das sie dann nach Boston zurückbrachte, überwältigte sie die Übelkeit. Sie mußte sich übergeben. Einige Tage lang dachte sie nur daran, wie Charlies Baby wohl aussehen werde. Vielleicht lag es am Schmerz, vielleicht aber wäre, was nun passierte, auch geschehen, wenn Charlie noch am Leben gewesen wäre: Fünfzehn Tage nach seinem Tod hatte R.J. eine Fehlgeburt. Am Morgen des Abschlußexamens saß sie in einem Raum voller nervöser, angespannter Männer und Frauen. Sie wußte, daß Charlie ihr geraten hätte, sich nur ums Geschäft zu kümmern, und so formte sie in Gedanken einen frauhohen Eisklumpen und stellte sich mitten hinein. Kalt verdrängte sie Kummer und Leid und alles andere aus ihrem Bewußtsein und konzentrierte sich nur auf die vielen, schwierigen Fragen der Prüfer.
Ihren eisigen Schutzschild hielt R.J. aufrecht, als sie bei Wigoder, Grant & Berlow anfing, einer alteingesessenen Anwaltskanzlei mit Büros auf drei Etagen eines vornehmen Gebäudes an der State Street. Einen Wigoder gab es nicht mehr. Harold Grant, der Geschäftsführer, war mürrisch, vertrocknet und kahlköpfig. George Berlow, Chef der Abteilung Testamente und Nachlaßverwaltung, hatte einen Bauch und ein vom Whiskey rotgeädertes Gesicht. Sein Sohn Andrew Berlow, Anfang vierzig und unscheinbar, betreute wichtige Immobilienkunden. Er ließ R.J. Verhandlungsschriftsätze und Mietverträge vorbereiten, Routinetätigkeiten, die weitgehend auf vorgegebenem Textmaterial beruhten. Sie fand die Arbeit mühselig und uninteressant, und nach zwei Monaten gestand sie das Andy Berlow. Er nickte und sagte trocken zu ihr, das sei grundlegende Kleinarbeit und eine gute Erfahrung. In der folgenden Woche durfte sie ihn zum Gericht begleiten, aber auch das weckte bei ihr keine große Begeisterung. Das ist nur eine Depression, sagte sie sich und stürzte sich mit Vehemenz auf die Arbeit. Nach knapp fünf Monaten bei Wigoder, Grant & Berlow brach sie zusammen. Es war kein emotionales Zugunglück, eher eine zeitweilige Entgleisung. Eines Abends nach einem langen Arbeitstag mit Andrew Berlow ließ sie sich von ihm zu einem Glas Wein einladen, aus dem schließlich eineinhalb Flaschen wurden, und die beiden landeten in R.J.s Bett. Zwei Tage später lud er sie zum Mittagessen ein und erklärte ihr nervös, daß er zwar geschieden sei, aber »eine Beziehung zu einer Frau habe, genaugenommen mit ihr zusammenlebe«. R.J.s Reaktion interpretierte er als wohlwollend und verständnisvoll; tatsächlich aber war der einzige Mann, der sie interessierte, tot. Bei diesem Gedanken bekam ihr eisiger Schutzschild Risse und bröckelte von ihr ab. Als ihr die Tränen kamen, verließ sie das Büro und ging nach Hause, und dort blieb sie auch. Andy Berlow deckte sie, da er glaubte, sie verschmachte vor Liebe zu ihm.
Sie sehnte sich nach einem langen Gespräch mit Charlie Harris. Sie sehnte sich danach, wieder seine Geliebte zu sein, und sie sehnte sich nach seinem Phantomkind, nach dem Baby, das seins gewesen wäre. Sie wußte, daß keiner dieser Wünsche in Erfüllung gehen konnte, aber der Kummer hatte sie zum Wesentlichen zurückgeführt, und sie erkannte, daß es einen Aspekt ihres Lebens gab, den sie aus eigener Kraft ändern konnte.
Der zweite Weg
R, J.s Entscheidung, Medizin zu studieren, war genau das, was ihr Vater sich immer gewünscht hatte, aber Professor Cole liebte seine Tochter und ging das Thema sehr behutsam an.
»Tust du es, weil du irgendwie das Gefühl hast, Charlies Stelle einnehmen zu müssen?« fragte er sie sanft. »Willst du spüren und erleben, was er gespürt und erlebt hat?«
»Teilweise schon, das muß ich zugeben«, antwortete sie, »aber das ist nur ein kleiner Teil davon.« Sie hatte sehr eingehend über diese Sache nachgedacht und war zu einer ausgereiften Entscheidung gelangt. Dabei hatte sie erkannt, daß sie jede frühere Regung, Ärztin zu werden, nur deshalb unterdrückt hatte, weil sie sich gegen ihren Vater hatte auflehnen wollen. Auch jetzt gab es noch Probleme in ihrer Beziehung. So sah sie sich außerstande, sich an der Boston University School of Medicine zu bewerben, denn dort gehörte ihr Vater zum Lehrkörper. Sie erhielt einen Studienplatz am Massachusetts College of Physicians and Surgeons, allerdings mit mangelnder Qualifikation in organischer Chemie, die sie jedoch in einem Ferienkurs nachholte.
Für Medizinstudenten gab es keine angemessenen
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