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Medizin für Melancholie

Medizin für Melancholie

Titel: Medizin für Melancholie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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darüber nach. »Ich glaube, ja.«
    Es war Mittag. Jetzt mischte sich der Gestank aus der Ruinenstadt mit der heißen Luft, und zwischen den eingestürzten Häusern krabbelte es.
    »Kommt das nie wieder, Mister?«
    »Was, die Zivilisation? Die will niemand mehr. Ich wenigstens nicht!«
    »Ich könnte ein bißchen davon ganz gut vertragen«, sagte der Mann weiter hinten in der Reihe. »Sie hatte auch ihre guten Seiten.«
    »Zerbrecht euch nicht die Köpfe«, rief Grigsby. »Es ist sowieso kein Platz dafür da.«
    »Ach«, sagte der Mann weiter hinten, »eines Tages kommt einer, der Phantasie hat, und flickt sie wieder zusammen. Paßt nur auf. Jemand, der ein Herz hat.«
    »Nein«, sagte Grigsby.
    »Ich sage ja. Jemand, der ein Gefühl für schöne Dinge hat. Der wird uns vielleicht so etwas wie eine begrenzte Zivilisation wiederbringen, eine, mit der wir in Frieden leben können.«
    »Aber eh du dich’s versiehst, ist wieder Krieg!«
    »Vielleicht würde es nächstes Mal anders sein.«
    Endlich erreichten sie den Hauptplatz. Von fern her kam ein Reiter auf die Stadt zu. Er hielt ein Blatt Papier in der Hand. Die Mitte des Platzes war abgesperrt. Tom, Grigsby und die anderen sammelten ihren Speichel und traten vor – bereit und mit weit offenen Augen. Tom fühlte, wie sein Herz heftig und aufgeregt klopfte und die Erde unter seinen nackten Füßen heiß wurde.
    »Los, Tom, spuck aus!«
    An den Ecken des abgesperrten Stückes standen vier Polizisten, vier Männer mit einer gelben Schnur am Ärmel – Zeichen ihrer Autorität über die übrigen Menschen. Sie sollten verhindern, daß die Leute mit Steinen warfen.
    »So hat jeder das Gefühl, daß er mal an sie rankam, verstehst du, Tom?« sagte Grigsby im letzten Augenblick. »Also los!«
    Tom stand vor dem Gemälde und betrachtete es lange.
    »Spuck aus, Tom!«
    Toms Mund war trocken.
    »Nun mach schon, Tom! Weiter!«
    »Aber sie ist so schön«, erwiderte Tom langsam.
    »Hier, ich spucke für dich!« Grigsby spie aus, und das Geschoß flog im Sonnenschein davon. Die Frau auf dem Porträt lächelte Tom heiter und geheimnisvoll zu, und Tom blickte sie an; sein Herz klopfte und klang wie Musik in seinen Ohren.
    »Sie ist schön«, sagte er.
    »Geh weiter, bevor die Polizisten…«
    »Achtung!«
    Die Leute in der Schlange verstummten.
    Eben noch hatten sie Tom gescholten, weil er nicht weiterging, aber jetzt wandten sie sich dem Reiter zu.
    »Wie heißt es eigentlich, Sir?« fragte Tom ruhig.
    »Das Bild? Mona Lisa, glaub ich. Ja, Mona Lisa.«
    »Eine Bekanntmachung«, verkündete der Reiter. »Die Behörden haben beschlossen, das Porträt heute mittag hier auf dem Marktplatz der Volksmenge auszuliefern, damit sie teilnehmen kann an der Zerstörung…«
    Tom hatte nicht einmal Zeit zu schreien, da schoben ihn die Leute schon brüllend und einander stoßend in wilder Unordnung auf das Bild zu. Man hörte das scharfe Geräusch des Zerreißens. Die Polizisten ergriffen die Flucht. Die Menge schrie, Hände packten das Porträt wie hungrige Vögel. Tom wurde beinahe durch den zerbrochenen Rahmen gestoßen. Er machte blindlings, was die anderen machten, streckte die Hand aus, bekam ein Stück öliger Leinwand zu fassen, riß daran, fühlte, wie es nachgab, fiel hin, wurde getreten und an den äußeren Rand der Menschenmenge gedrängt. Blutig, mit zerfetzten Kleidern, sah er zu, wie alte Frauen Stücke von dem Gemälde kauten, wie Männer den Rahmen zerbrachen, auf der Leinwand herumtraten und sie in Konfettistreifen zerrissen.
    Nur Tom stand still abseits vom Gewimmel. Er blickte auf seine Hand, die ein Stück von der Leinwand an seiner Brust verbarg.
    »He da, Tom!« rief Grigsby.
    Ohne ein Wort zu sagen, schluchzend, stürzte Tom fort. Er lief hinaus, die Straße mit den Bombenlöchern hinunter, über ein Feld, durch einen flachen Fluß; er blickte sich nicht um und hielt seine Hand fest zusammengepreßt unter dem Mantel verborgen.
    Bei Sonnenuntergang erreichte er das kleine Dorf. Gegen neun Uhr stand er vor dem zerstörten Bauernhaus. Weiter hinten in dem Überrest des Kornspeichers, der noch stehengeblieben und jetzt mit einem Zelt überdacht war, hörte er Geräusche schlafender Menschen – seiner Eltern und seines Bruders. Er schlüpfte rasch und leise durch die niedrige Tür und legte sich keuchend hin.
    »Tom«, rief seine Mutter im Dunkeln.
    »Ja.«
    »Wo bist du gewesen?« fuhr ihn sein Vater an. »Morgen bekommst du eine Tracht Prügel.«
    Jemand trat ihn in die

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