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Medizin für Melancholie

Medizin für Melancholie

Titel: Medizin für Melancholie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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Seite. Das war sein Bruder, der das kleine Stück Land am Tag allein hatte bearbeiten müssen.
    »Schlaf jetzt!« rief seine Mutter müde.
    Noch ein Tritt.
    Tom atmete auf. Alles war still. Seine Hand war noch immer fest, ganz fest an seine Brust gedrückt. So lag er eine halbe Stunde lang mit geschlossenen Augen da.
    Dann spürte er kaltes weißes Licht. Der Mond stieg empor, und der kleine Lichtfleck bewegte sich und kroch langsam über Toms Körper hin. Erst jetzt lockerte sich sein Griff. Er lauschte dem Atem der neben ihm Schlafenden und zog langsam, vorsichtig die Hand hervor. Er zögerte, hielt den Atem an, öffnete die Hand und glättete das winzige Stück der bemalten Leinwand.
    Die Welt schlief im Mondschein.
    Und dort auf seiner Hand lag das Lächeln.
    Im weißen Licht, das vom mitternächtlichen Himmel fiel, betrachtete er es, das wunderschöne Lächeln.
    Eine Stunde später, nachdem er das Stück Leinwand wieder zusammengefaltet und versteckt hatte, sah er das Lächeln noch. Er schloß die Augen, und es war in der Dunkelheit. Und es war immer noch da, warm und freundlich, als er einschlief und die Welt still dalag und der Mond am kalten Himmel hinauf- und dann, gegen Morgen, hinuntersegelte.

 
Die erste Nacht der Fastenzeit
     
     
     
    Ihr wollt also wissen, was es mit den Iren auf sich hat? Ihr fragt, was sie in ihr Schicksal hinein und auf ihren Weg hinaustreibt? Na schön, hört zu. Ich habe zwar in meinem Leben nur einen einzigen Iren gekannt, aber diesen kannte ich dafür hundertvierundvierzig Abende hintereinander ohne Unterbrechung. Kommt näher; vielleicht seht ihr in ihm jenes ganze Volk, das aus dem Regen hervortaucht, um im Nebel zu verschwinden. Paßt auf, da kommen sie! Schaut hin, da gehen sie!
    Dieser Ire hieß Nick.
    Im Herbst 1953 begann ich in Dublin ein Fernsehspiel; jeden Nachmittag fuhr ich mit einem Taxi dreißig Meilen weit vom Liffey-Fluß hinaus bis vor das riesige graue Landhaus aus der Zeit Georgs V. wo mein Regisseur und Direktor an Parforcejagden teilnahm. Dort besprachen wir an den langen Abenden im Herbst, im Winter und Frühlingsanfang meine acht täglichen Manuskriptseiten. Danach, um Mitternacht, weckte ich, um zum Irischen Meer und ins Royal Hibernian Hotel zurückzukehren, die Telefonistin in der Vermittlung des Dorfes Kilcock und ließ mich von ihr mit dem wärmsten, wenn auch völlig ungeheizten Lokal der Stadt verbinden.
    »Heber Finns Kneipe?« schrie ich, sobald die Verbindung hergestellt war. »Ist Nick da? Könnten Sie ihn bitte herüberschicken?«
    Ich sah sie im Geiste vor mir, die einheimischen Burschen; sie saßen alle in einer Reihe und blickten über die Theke auf den gefleckten Spiegel, der einem zugefrorenen Winterteich glich, und sie selbst glichen Ertrunkenen tief unter dem schönen Eis. Mitten in all dem Hin und Her und dem geheimnistuerischen Geflüster stand Nick, mein Dorffahrer, mit seiner übergroßen Ruhe. Ich hörte, wie Heber Finn ihm vom Telefon aus zurief. Ich hörte, wie Nick sich rührte und antwortete:
    »Na, sieh doch, ich stürze ja schon zur Tür!«
    Ich hatte bald begriffen, daß dieses »Zur-Tür-Stürzen« kein nervenerschütternder Vorgang war, der die eigene Würde verletzen oder das feine Filigran eines Gesprächs zerstören konnte, das bei Heber Finn groß und atemberaubend schön gewebt wurde. Es war vielmehr ein allmähliches Sichlösen, ein Vorlehnen, so daß der eigene Schwerpunkt auf diplomatische Weise nach der fernen, leeren Seite der Kneipe hin verlagert wurde, wo sich die von allen gemiedene Tür befand. Inzwischen mußten ein Dutzend Gesprächsketten und -fäden geknüpft, befestigt und gekennzeichnet werden, so daß man das Muster am nächsten Morgen mit heiseren Schreien des Wiedererkennens aufnehmen und die Weberschiffchen ohne Pause zum Atmen oder zum Überlegen von neuem auswerfen konnte.
    Ich rechnete alles genau aus und setzte für den längeren Teil von Nicks nächtlicher Reise – die Länge von Heber Finns Kneipe – eine halbe Stunde an. Der kürzere Teil – von Finn bis zu dem Haus, in dem ich wartete – dauerte nur fünf Minuten.
    So war es in der Nacht vor der Fastenzeit. Ich rief an. Ich wartete.
    Und schließlich rumpelte der Chevrolet, Baujahr 1931, oben torffarben wie Nick, durch den nächtlichen Wald heran. Wagen und Fahrer ächzten, keuchten und schnauften leise, als sie in den Hof einbogen, und ich tastete mich unter einem mondlosen, aber klaren Sternhimmel die Treppe vor dem Haus

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