Medusa
sie darüber nachdachte, desto absurder kam ihr der Plan vor. Aber er war alles, was ihr geblieben war. Mit hängenden Schultern machte sie sich auf den Rückweg, als sie ein dumpfes Röhren vernahm.
Erschrocken zuckte sie zusammen. Der Laut wurde durch den Wind herangetragen und von den Felsen vielfach zurückgeworfen. Zuerst glaubte sie, dass sich ein Fahrzeug näherte, dass die Soldaten Durands sie nun doch gefunden hatten.
Dann hörte sie das Geräusch erneut. Nein, unmöglich, das war kein Fahrzeug. Kein Motor konnte derart unanständig rülpsen. Es waren eindeutig die Laute eines großen Tieres. Hannah wankte in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Zuerst sah sie nur Sandschleier, die der unablässige Südwestwind vor sich herblies. Doch nach und nach kristallisierten sich ein langer Hals, muskulöse Beine und darüber ein Torso mit einem unverwechselbaren Buckel aus dem Vorhang aus Sand. Ein Dromedar.
Sehr vorsichtig, um das Tier nicht zu erschrecken, näherte sie sich ihm von der Seite. An der Form und Farbe der Packtaschen erkannte sie unzweifelhaft, dass es eines der Tiere war, die sie beim Angriff auf das Lager verloren hatten. Als das Dromedar seinen Kopf herumwarf, musste sie lachen, so verblüfft war sie, dass von allen Tieren ausgerechnet dieses noch am Leben war. Es war wie ein Wunder.
Ein seltsames Geräusch holte Chris aus einem tiefen Traum. Der Laut kam ihm vage bekannt vor. Ein lautes Grunzen. Er schlug die Augen auf und schrak zusammen, so absonderlich war das Gesicht, das auf ihn herabblickte. Große Augen, pelzige Ohren und eine unablässig kauende Schnauze mit mächtigen gelben Zähnen.
»Boucha?«, stammelte er. Er hob seine Hand, um das Trugbild zu verscheuchen, doch es gelang ihm nicht. Stattdessen begann die Erscheinung an seinem Hemd zu knabbern.
»Boucha!« Während er versuchte, seinen Ärmel zwischen den gelben Zähnen herauszuziehen, erhärtete sich der Verdacht, dass er nicht träumte. »Was um alles in der Welt …?« Hinter dem muskulösen Rücken des Dromedars tauchte Hannah auf. In ihrem Gesicht war ein breites Grinsen zu sehen. »Es ist doch immer wieder schön, dem Wiedersehen alter Freunde beizuwohnen«, feixte sie. »Boucha scheint dich genauso vermisst zu haben wie du ihn. Wenn ihr gern ein paar Minuten ungestört sein wollt, verschwinde ich kurz.«
Chris rappelte sich auf und zog energisch an seinem Ärmel, ehe Boucha ihn ganz verschlang. Mit einem beleidigten Grunzen wandte das Dromedar sich von ihm ab. »Wo in drei Teufels Namen hast du bloß den alten Boucha aufgetrieben?«
»Er stand vor dem rutschigen Abhang, über den du ihn geführt hattest, und schien bis in alle Ewigkeit darauf warten zu wollen, dass du ihn wieder zurückbringst«, erläuterte sie. »Nun wird er uns nach Osten führen, nicht wahr Boucha?« Sie klopfte dem Dromedar beruhigend auf die Flanke und wurde mit einem wohligen Röhren belohnt. »Ich habe Reste von unserem Proviant bei ihm gefunden sowie einige Wasserbehälter, die ich mittlerweile aufgefüllt habe. Jetzt hält uns nichts mehr hier, zumal uns das stürmische Wetter einen guten Schutz vor Durand und seinen Kumpanen bietet.«
»Schutz? Na ja, ich weiß nicht«, knurrte Chris, während er den Blick argwöhnisch gen Himmel richtete. Doch Hannah schien das Heulen und Zerren nichts auszumachen. Sie band sich ein Stofftuch über den Mund, so dass ihre Stimme nur noch dumpf an sein Ohr drang. »Natürlich«, lachte sie. »Ihre gesamte Technik arbeitet nur bei schönem Wetter. Helikopter, Nachtsichtgeräte, sogar Satellitenüberwachung, der ganze Schnickschnack funktioniert momentan nicht. Sie müssen mit Autos oder Kamelen raus, und das verschafft uns eine Ausgangssituation, die der ihren zumindest ebenbürtig ist. Wir haben aber einen entscheidenden Vorteil. Wir wissen genau, wohin wir wollen, nämlich nach Osten. Und jetzt rauf mit dir, in den Sattel.«
Chris hatte keinen Schimmer, wovon sie redete. Östlich vom Adrar Tamgak war nichts. Da gab es nur Sand und Geröll, so weit das Auge reichte, dazwischen einige Felsen, die wie Inseln aus der tödlichen See herausragten. Die nächste Ansiedlung lag im Hoggar , also im Norden – vierhundert Kilometer entfernt und damit außerhalb jeder Reichweite. Aber Osten? Da war doch nichts. Er zwang sich, nicht gleich in einen heftigen Disput mit ihr zu verfallen. Hannah hatte es bisher immer vermocht, ihn zu überraschen. Vielleicht sollte er langsam anfangen, etwas mehr Vertrauen
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