Medusa
erwachte aus einem tiefen, merkwürdigen Traum. Ihm war, als habe er mehrere Tage auf hoher See verbracht, die Finger um eine Holzplanke gekrallt, die ihn davor bewahrte, in den Tiefen des Wassers zu ertrinken. Das ewige Schaukeln der Wellen war zu einem Teil von ihm selbst geworden, wie ein innerer Motor, der ihn am Leben hielt, während er von einem Dämmerzustand in den nächsten glitt. Unterbrochen wurden die Träume nur von kurzen Pausen, in denen er seinen quälenden Durst stillen musste. Er hatte keine Erinnerung daran, wie viele Tage und Nächte er auf diesem Meer verbracht hatte, aber es mussten viele gewesen sein, denn er fühlte sich ausgelaugt und schwach. Selbst das Öffnen der Augen wurde zur Qual, denn die Lider waren vom Salz des Meeres völlig verklebt. Als er einen ersten zaghaften Blick auf die umliegende Welt warf, glaubte er, sich noch immer in einem Traum zu befinden. Um sich herum sah er blau schimmernde Eisberge, die sich aus den Wogen eines gelben Meeres erhoben. Er sah rund geschliffene stromlinienförmige Gebilde, die sich mit eckigen, scharfkantigen Massen zu einem Labyrinth vereinten.
Ein beängstigender Gedanke sickerte in sein Bewusstsein. Vielleicht schlief er gar nicht, vielleicht war er tot und durchlebte jene mysteriöse letzte Reise, die jeder irgendwann einmal antreten musste. Dann war der Tod ja ganz anders als von Dichtern und Philosophen beschrieben. Nichts, wovor man sich fürchten musste, sondern ein Ort der Ruhe, der Wärme und der Vollkommenheit.
Doch die ewige Ruhe wurde von einem Geräusch durchbrochen, das inmitten des wogenden Eises misstönend und unpassend klang. Chris rieb sich erneut die Augen, doch das Bild, das er von seiner Umgebung hatte, veränderte sich nicht. Als er schon glaubte, sich getäuscht zu haben, vernahm er das Geräusch erneut, klarer und nachdrücklicher als beim ersten Mal. Es wurde von den blauen Klippen zurückgeworfen und mündete in ein Echo, das sich wiederum hundertfach brach. Eine Sinfonie des Missklangs. Und als sei das noch nicht genug, schob sich ein hässliches Gesicht in sein Blickfeld, das sich ihm auf beängstigende Weise näherte. Eine Zunge kam aus dem schiefen Maul und leckte ihm übers Gesicht. Er schrie auf … und erwachte.
Schlagartig wurde ihm bewusst, dass er noch lebte.
»Alles in Ordnung mit dir?« Hannah hatte ihr Gesicht bis zur Unkenntlichkeit mit Stofftüchern umwickelt, um sich vor dem Sand zu schützen, den der Wind immer noch von Osten herantrug.
»Du hast geschrien. Geht es dir gut?«, erkundigte sie sich nochmals und gab Boucha einen Klaps mit dem Stock. Das Dromedar wandte sich mit einem protestierenden Röhren ab.
Chris richtete sich im Sattel auf, und sofort meldeten sich die Schmerzen zurück. Doch er zwang sich, sie zu ignorieren, und betrachtete stattdessen die Umgebung. »Was sind das für Eisberge?«, stammelte er und wies auf die blau schimmernden Klippen. »Ich dachte, ich hätte nur von ihnen geträumt.«
»Nein, das hast du nicht.« Hannah öffnete ihr Kopftuch und entblößte ein müdes Lächeln. Die dunklen Ringe unter ihren Augen zeugten von den Strapazen, die sie auf sich genommen hatte. »Das sind die Montagnes Bleues , die Blauen Berge. Du hast sie wohl irrtümlich für Eis gehalten. Sie bestehen aus einer bestimmten Sorte Marmor, der aufgrund seiner kristallinen Struktur nur die blauen Anteile des Lichts reflektiert.« Sie schwankte ein wenig. »Zwei Nächte und einen ganzen Tag waren wir unterwegs, doch nun haben wir unser Ziel fast erreicht. Wir hatten sehr viel Glück. Ich kann es noch gar nicht glauben.«
» Montagnes Bleues? In der Ténéré ? Dann sind wir ja mitten im Nirgendwo. Was redest du da von Glück? Hier gibt es rundherum nur Sand«, murmelte Chris. »Was zum Teufel wollen wir hier?«
»Wir suchen jemanden«, entgegnete Hannah mit einem trotzigen Unterton in der Stimme. »Wenn du es genau wissen willst, wir suchen den Tuareg, der mir damals das Versteck im Tassili N’Ajjer gezeigt hat. Er muss hier irgendwo sein Sommerlager haben.«
»Kore?«
»Ich sehe, du erinnerst dich. Er sagte mir, dass ich ihn hier finden würde, und ich habe vor, bei ihm eine Zeit lang unterzutauchen.«
»Es ist Monate her, dass ihr über das Thema gesprochen habt. Was weißt du überhaupt über ihn? Was, wenn er gar nicht hier ist? Hast du dir mal Gedanken darüber gemacht, was wir dann tun sollen? Um uns herum nur Sand, Steine, Felsen. Sieh dich doch mal um, hier gibt es keine Dörfer, keine
Weitere Kostenlose Bücher