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Medusa

Medusa

Titel: Medusa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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empfand.
    »Es ist diese aufgeladene Atmosphäre.« Patrick zog an seiner Zigarette. »Irgendein Geheimnis schwebt über diesem Tal, und ich wette, dass die Suche noch weitergeht. Nimm zum Beispiel Chris. Er verlässt die Schlucht nur zum Essen, Trinken und Schlafen. Die letzten zwei Tage hat er ausschließlich bei der Skulptur und den Inschriften verbracht. Er redet nicht viel, aber ich glaube, dass er auf irgendetwas gestoßen ist. Oh, ich sehe gerade Malcolms Zeichen. Irene hat bereits ihre Position eingenommen. Du solltest jetzt besser auch rübergehen.«
    Aufmunternd richtete er seinen Daumen nach oben. »Viel Glück.« Hannah ging zu dem markierten Punkt, an dem Irene bereits auf sie wartete.
    »Jetzt ist der Augenblick der Wahrheit gekommen. Übrigens siehst du fantastisch aus. Ich wünschte, ich hätte deinen goldenen Teint, dann könnte ich mir die Schminkerei sparen.«
    Hannah seufzte. »Und ich wünschte, ich hätte deine Routine.«
    Malcolm kam auf sie zu und hielt ihr den Belichtungsmesser unter die Nase, während er von einem dick belegten Butterbrot abbiss. »Kannst du deinen Text?«, nuschelte er.
    »Ich habe gestern den ganzen Tag gepaukt, aber wenn ich noch länger warten muss, vergesse ich ihn bestimmt wieder.«
    »Aufgeregt?«
    »Und wie! Könnten wir bitte bald anfangen?«
    Malcolm grinste, ging zurück zur Kamera und wischte sich die fettigen Hände an der Hose ab. »Also gut, dir kann geholfen werden. Und immer daran denken: ganz locker und entspannt bleiben, und nicht in die Kamera schauen. Genieße es. Wenn etwas danebengeht, drehen wir einfach noch mal.« Er hob die Hand. »Aufpassen bitte! Ton ab!«
    »Ton läuft«, meldete sich Albert unter seinem Kopfhörer.
    Malcolm nickte. »Kamera läuft, und Klappe bitte!«
    Patrick hielt eine altmodische Klappe vor die Linse und ließ sie zuschnappen.
    »Geister der Wüste, die Erste. Und Action!«
     
    Der Abend kam und mit ihm die Geräusche der Nacht. Grillen fingen an zu zirpen, und über der Ebene schwebte der klagende Ruf einer Eule. Hannah entzündete eine Gaslampe, um in ihrem kalten Licht einige Skizzen vom Vortag zu vervollständigen. Bisher hatte sie etwa achtzig Felsdarstellungen kopiert, mit Bleistift und als Aquarell. Die Zeichnungen waren nicht nur besser zu katalogisieren als Fotografien, sondern auch ideal, um Besonderheiten hervorzuheben und eventuell zerstörte Abschnitte zu ergänzen. Außerdem machte es einfach Spaß. Sie hatte sogar schon versucht, die Bilder mit den Mitteln nachzuempfinden, mit denen sie damals geschaffen wurden. Doch ihr Versuch, das Originalpigment selbst anzumischen, war misslungen. Erstens war es zu zeitraubend, und zweitens entpuppten sich die Farben als nicht geeignet, um damit auf Papier zu arbeiten.
    Mit geübter Hand färbte sie die Skizze eines Speerwerfers in einem Goldockerton aus ihrem Aquarellkasten. Es dauerte eine Viertelstunde, dann war das Bild fertig. Das Licht war inzwischen so schwach geworden, dass sie den Pinsel zur Seite legte und den Rest der Arbeit auf den nächsten Tag verschob. Abdu hatte ein Feuer angefacht, dessen Flammen wilde Schatten auf die nahe gelegenen Felsen warfen. Das Abendessen stand kurz bevor, und er hatte es sich nicht nehmen lassen, ein Festmahl vorzubereiten. Der Geruch scharfer Gewürze ließ Hannah das Wasser im Mund zusammenlaufen. Albert spielte All Blues auf seinem Saxofon, eine alte Miles-Davis-Nummer, die Hannah schon seit Ewigkeiten nicht mehr gehört hatte. Sie ließ sich auf ihren Klappstuhl sinken, drehte die Gaslampe herunter und sah dem Treiben an der Feuerstelle zu, wo Abdu Hühnerfleisch auf einem Rost grillte. Der Tag war anstrengend gewesen, anstrengend und aufregend. Das Fest wurde ihr zu Ehren gegeben, als Belohnung und Taufe für ihren ersten Auftritt vor der Kamera. Das war so Tradition, hatte man ihr erklärt. Ihr wurde ganz flau im Magen bei dem Gedanken, dass Millionen von Menschen, darunter ehemalige Kollegen und Mitarbeiter, sie sehen würden. Sie konnte nur hoffen, dass Ton, Musik und Kameraführung über ihre Unsicherheit hinwegtäuschen würden. Wenn nicht, gab es ein Desaster.
    Plötzlich fühlte sie einen Stich im Herzen, als sie daran dachte, was wohl ihre Familie dazu sagen würde. Das Bild, wie Vater, Mutter und Inge daheim in Hamburg einträchtig zusammensaßen, jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Wie würde Vater wohl reagieren, wenn er sie erkannte? In ihrer Fantasie malte sie sich die Situation aus. In allen Einzelheiten.

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