Meer ohne Strand
zwei Türken. Eine hennahaarige Uralthippiefrau,die Arme fröstelnd zusammengezogen unter dem selbstgestrickten Schultertuch. Eine alte Dame in einem Kostüm, sehr fein. Sina: die zurückgekehrt war in ihre Wohnung, Axel sagte,
»Was liest du da?« Sah über ihre Schulter in den Reiseführer, sagte, »Willst du wegfahren?« Stopfte sein Hemd in die Hose. Zog seine Schuhe an, sagte, »LA ist ziemlich geil. Oder Chicago, Chicago ist wirklich gut«,
Draußen hatte es wieder zu schneien begonnen. Axel zog seine Jacke an. Beugte sich über sie, gab ihr einen Kuß,
»Ich rufe dich nachher an«,
Und warum blieb er nicht einfach bei ihr? Warum zog er sie nicht in seine Arme? Als er gegangen war, atmete Sina auf.
Genoß die Stille, das Alleinsein. Ging dann ins Bad. Ließ Wasser in die Wanne laufen, dachte an ihren Vater: der damals, als er begriffen hatte, daß er nie wieder auf Dächer klettern würde, die Wohnung gestrichen hatte. Mit einer Rolle, die an einem Stab stak: damit er auf keiner Leiter stehen mußte, hinterher hatte er sich ans Bad gemacht. Hatte die Kacheln herausgeschlagen, dann die Badewanne herausgerissen: weil er nun altern, dann nicht mehr in eine Wanne hineinkommen würde, heute war Samstag. Morgen war Sonntag. Dann kam schon wieder der Montag. Ein Montagmorgen im Winter, der sein würde wie alle anderen auch: Gestapfe durch gefrorenen Matsch in klobigen Stiefeln, Büroschuhe mit Hacken in einer Plastiktüte. Sina mit Plastiktüte und Handtasche auf der U-Bahn-Treppe, Blick stur geradeaus, wie alle anderen, über den Bahnsteig bläst stinkende Kälte. Die U-Bahn-Fenster sind von innen beschlagen,Zeitungsleser stoßen Sina ihre Ellenbogen in die Rippen. Schlagzeilen krähen ihr ins Gesicht. Die Fenster des Großraumbüros lassen sich nicht öffnen, na und? Wer will denn schon ein Fenster aufmachen bei dieser Kälte, Sinas Kolleginnen sind nett. Sie lassen Sina meistens in Ruhe, am Montag gibt es Linsensuppe in der Kantine. Wahlweise Kartoffelpuffer mit Apfelmus, im Licht der Neonröhren sehen alle aus, als litten sie unter Sick building syndrom. Wenn Sina nach Hause geht, ist es schon wieder dunkel, Sina beschwert sich nicht! Sie ist selber schuld. Hätte sie eben fertigstudiert! Hätte sie was Vernünftiges gelernt,
Am besten, du studierst was Vernünftiges, Sinakind. Das mit deiner Tanzerei wird doch sowieso nichts, ach komm, wein nicht. Ich wäre so stolz auf dich, wenn du studierst. Du kannst schließlich immer privat weitertanzen, in deiner Freizeit,
Aber es hatte ja alles gestimmt. Der Vater hatte vollkommen recht behalten, Sinas Wanne war jetzt voll.
Sie wickelte sich aus ihrem Strandtuch. Sina, einssechsundsiebzig groß, sie war nicht dick. War aber auch nicht zart: war muskulös. War eben eher der athletische Typ, dreimal wöchentlich trainierte sie im Fitneßstudio. Trainierte nur an Geräten. Machte nie mit bei Aerobic, Jazz Dance, und warum fiel ihr jetzt schon wieder Emanuel Ullrich ein?
Mit dem sie einmal Tango getanzt hatte, morgens um vier auf dem leeren, noch spurenlos zugeschneiten Königsplatz, Sina starrte den Reiseführer an, den sie in der Hand hielt. Sie war noch nie in Amerika gewesen. Schon oft in Italien, in Griechenland: aber Amerika hatte sich bisher nicht ergeben, Sina legte das Buch weg.
Nichts hatte sich bisher ergeben für Sina Fischer. Mit ihrem Brotjob, ihrer Visionslosigkeit. Ihrer beruflichen Einfallslosigkeit, ihren verkorksten Beziehungen, rein gar nichts würde sich jemals ergeben für Sinalina: der die Mutter verunglückt, der Vater an Krebs gestorben war, er hatte sie nirgendwo mit hinaufgenommen. War selbst auf dem Boden geblieben, wie es die Ärzte für richtig gehalten hatten: um schließlich zu sterben unter furchtbaren Schmerzen,
Diese Qual, Sinakind, diese Qual, warum bin ich nicht irgendwann von einem Dach gestürzt! Wäre ich doch nur von einem Dach gestürzt, hätte mir den Hals gebrochen wie deine Mutter, jetzt ist es, als würden Hunde in mir fressen,
Er hatte ihr etwas Geld hinterlassen. Hatte in den letzten Jahren zuviel getrunken, hatte aber nicht alles vertrunken, Sina begann sich anzuziehen, ohne gebadet zu haben. Streifte Jeans über, einen Pullover, sie beeilte sich jetzt: Sie konnte das bißchen, was der Vater ihr gelassen hatte, zu dem wenigen dazuwerfen, das sie selbst besaß. Sie nahm ihre Jacke vom Haken, in ein paar Stunden schlossen die Reisebüros. Dann würde es zu spät sein. Dann wäre eine weitere Chance dahin, aber sie
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