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Meer ohne Strand

Meer ohne Strand

Titel: Meer ohne Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Friedrich
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trat, Pestbeulen unter dem Maßanzug. Oder das traditionelle Skelett: mit einem riesigen höllenfeuerheißen Ständer, vor der Bühne einer Liveshow-Bar, in einem Darkroom, dann war es vorbei gewesen. Mit dem Tod des Vaters war die Begierde erloschen, geblieben war Johannes’ Gequassel. Sina hatte sich von Johannes getrennt.
    Hatte allein das Haus leergeräumt. Hatte sich um Mieter gekümmert, den Papierkram erledigt, im Kleiderschrank des Vaters ganz hinten unter den Winterstiefeln hatte sie die Kartons gefunden.
    Die Schuhkartons mit den Briefen: die Sina über JahreAbend für Abend auf die Fensterbank gelegt hatte, Vom Himmel hoch da komm ich her: Mama und das Christkind hatten dieselbe Adresse gehabt. Sina kauerte heulend auf dem kalten Boden des Schlafzimmers. Las die unheimlich vertraute, unheimlich fremde Kinderschrift, umgeben von den Schuhen ihres Vaters: die eigensinnig die Form eines fortgegangenen Fußes festhielten, Liebe liebe Mama. Heute bin ich in Rechnen drangekommen, du hast ja aus dem Himmel zugesehen aber wenn nicht dann schreib ich es dir, ich habe alles gewußt. Ich vermisse dich so schrecklich ich habe dich so lieb liebe Mama, der Thomas hat mich in der Pause gehauen und ich habe zurückgehauen, die Christa schimpft und sagt: Ein Mädchen haut nicht!! aber ich habe es doch getan. Du verstehst das bestimmt,
    Er hatte alle Briefe aufgehoben. Hatte sie also Abend für Abend eingesammelt. Hatte sie alle gelesen, niemals ein Wort gesagt, Sina trug die Briefe in den Garten. Verbrannte sie, an der Stelle, wo einst der Kirschbaum gestanden hatte, womit hätte Sina sich den Blick des Vaters denn verdienen können?
    Den erlösenden Blick: in dem sie geborgen gewesen wäre in ihrem Sina-Sein,
    Papa, schau! Schau doch mal, was ich kann, Papa!
    Sina mit fünf oder sechs, freiheitsberauscht. Atemlos um ihre eigene Achse wirbelnd, mit ausgebreiteten Armen, vollkommen sicher: Was sich so wundervoll anfühlte, mußte auch wundervoll aussehen, als sie schließlich keuchend, taumelig innehielt, sagte er, Und was machst du da, Sinakind?
    Einen Moment lang war sie verblüfft gewesen. War beinahe verletzt, erinnerte sich aber gerade noch rechtzeitig:Dies war ihr Vater. Der nichts dafür konnte, daß er das Offensichtliche nicht zu erkennen vermochte, Ein sehr schönes Bild, Sinakind! sagte der Vater. Und was ist es? Er sagte: Du hast mir einen Brief geschrieben! Das ist aber nett, was steht denn darin,
    Es war nicht seine Schuld, daß er den Brief nicht lesen konnte. In dem das Offensichtliche stand: Ich habe dich lieb, Papa. Daß er die Fische und Algen auf dem Bild nicht erkennen konnte. Die tanzenden Fische, in der rieselnden Stille der Tiefsee: die niemals sprachen, Sina sagte,
    Aber Papa. Ich tanze doch.
    Verdrehte die Augen dabei: wie Christa es machte, wenn jemand schwer von Begriff war, Sina sagte,
    Mensch, Papa! Hast du denn nicht mal das gesehen? Daß ich getanzt habe,
    Ging dann hinaus in die Diele. Tanzte, wirbelte für sich allein weiter, in der folgenden Woche meldete Christa sie zum Ballett an.
    Dein Vater meint, das würde dir Spaß machen, Sina,
    Erneut war Sina verblüfft. Begriff dann aber, gerade noch rechtzeitig: Ihr Tanz mußte dem Vater mißfallen haben. Nicht alles sah also wundervoll aus, nur weil es sich wundervoll anfühlte, sie ging bereitwillig in die Ballettstunden. Sie war ein kräftiges Mädchen, groß für ihr Alter. Sie übte viel. Sie benutzte das Treppengeländer in der Diele als Ballettstange. Während sie übte, sang sie sich ihren Namen vor. Ihren wirklichen Namen: Sinalina. Den sie gerade erfunden hatte für Sina, die tanzte, im Wohnzimmer saß ihr Vater und sah aus dem Fenster.
    Komm, Papa, komm! Jetzt schau mir doch endlich mal zu,
    Er unterdrückte einen Seufzer, erhob sich. Kam mit ihr in die Diele: wo sie vorführte, was sie geübt hatte: Demipliés, Ports de Bras, hinterher nickte er, ein wenig geistesabwesend. Sagte,
    Sehr schön, Sinakind,
    Möglicherweise meinte er es. Er konnte ja nichts dafür, daß er hier unten den Atem anhalten mußte: Durchatmen konnte er nur auf seinen Dächern. Die wie Felsen aufragten aus dem Meer der Stadt, sicher holte er immer noch einmal tief Luft, bevor er zu Sina hinabkam: wie ein Taucher. Der Perlentaucher vielleicht, aus einem von Sinas alten Bilderbüchern. Der sich an einem Felsen hochzog mit einem triefenden Korb voller Austern, nur wenn die Austern verletzt worden waren, waren sie wertvoll. Wenn sie sich gewehrt hatten gegen das

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