Meer ohne Strand
die ihr einfiel. Tränen stiegen ihr in die Augen, ätzend wie Säure, sie beschimpfte sich lautlos dafür. Drehte den Kopf weg, er sagte,
»Sorry. Tut mir leid, sorry«,
Hielt ihr seine Zigaretten hin, während er fuhr. Parkte dann den Wagen, oberhalb des Strandes, sie nahmen das Bier mit, das sie gekauft hatten. Die Luft war kühler als in der Stadt. Er kramte auf seinem Rücksitz herum, bis er eine Decke gefunden hatte. Sie zogen die Schuhe aus, der Sand war weich und kalt unter ihren Füßen. Nahe der Flutlinie breiteten sie die Decke aus, er sagte,
»Also ich, ich würde niemals nach Florida fahren, wenn ich woanders wäre.«
Der Himmel über ihnen war dunkel, mit ein paar Sternen darin. Key West war ein Heiligenschein in der Nacht.
»Wenn ich könnte, dann würde ich nach Tahiti fahren. Ich würde nicht direkt hinfahren. Ich würde ein Boot haben und damit fortsegeln. Ich würde einfach herumsegeln, überall hin. Und ganz zuletzt, da käme ich dann nach Tahiti«,
»Und was würdest du tun, auf Tahiti?«
Sie meinte die Frage ernst. Er trank Bier, ließ die Dose in den Sand rollen. Sein Gesicht war sehr dünn. Ein scharfes Profil gegen den Himmel, sie hörte sich sagen,
»Am liebsten würde ich auch irgendwo anders hingehen. Was Neues tun, ganz von vorne anfangen«,
Fand es abgedroschen, so etwas zu sagen: noch dazu in Amerika, er lachte plötzlich auf.
»Soll ich dir erzählen, warum meine Mutter meinen Alten verlassen hat?«
Lachte noch einmal. Schüttelte den Kopf,
»Das ist eine Geschichte, die mußt du gehört haben«,
Wollte die Geschichte offensichtlich als Anekdote verstanden wissen. Öffnete ein neues Bier, während er sprach,
»Also, das war nämlich so: Mein Alter, der war immer weg. War Fernfahrer, fuhr kreuz und quer in den Staaten herum, dann einmal, da kam er zu früh zurück. Fand meine Mutter im Bett, mit einem anderen Kerl. Ich weiß noch, wie der Kerl hieß: Maurice«,
Unterbrach sich. Drückte seine Zigarette aus. Zündete umständlich eine neue an, sah übers Meer,
»Er war natürlich total aus dem Häuschen, der Alte. Hat dem anderen erst mal eine geballert, dann hat er ihn ans Fenster gescheucht. Hat ihn mit seiner Knarre rübergescheucht, splitternackt, wie er war, hat ihn dazu gezwungen, sich aufs Fensterbrett zu stellen. Hat sich dann in aller Ruhe einen Joint angezündet und dem anderen die Glut an den Hintern gehalten. Hat ihm so lange die Glut an den Hintern gehalten, bis der Kerl aus dem Fenster gesprungen ist«,
Seine Hand lag neben ihrer im Sand.
»Ich habe die ganze Zeit im Flur gestanden. Ich war zwölf damals. Der Alte wußte genau, ich war da. Er hat nur so getan, als ob er mich nicht sieht. Der andere hat sich beide Beine gebrochen, das hat meiner Mutter dann endgültig gereicht. Das war irgendwie schlimmer für sie als die ganzen Prügel, die sie selber immer eingesteckt hat«,
Sie berührte seine Hand, mit zwei Fingern. Er verstummte. Regte sich nicht, nach einer Weile nahm sie die Hand wieder weg. Er ließ sich auf die Decke zurücksinken. Sagte dann,
»Sie ist in Tallahassee, meine Mutter. Hat einen Typen kennengelernt, ist mit ihm rauf nach Tallahassee«,
Wellen leckten am Strand hoch wie Hundezungen. Das Mondlicht auf dem Wasser war eine holprige Straße, Sina sagte,
»Ich kenne meine Mutter gar nicht. Sie ist gestorben, als ich noch sehr klein war. Ich erinnere mich noch nicht mal an sie«,
Jacques richtete sich auf. Wandte sich ihr zu, starrte in ihr Gesicht,
»Ist das sehr schlimm? Sag. Ist das ganz gräßlich für ein Kind, oder kommt man irgendwann damit zurecht«,
Sina wich seinem Blick aus. Hob die Schultern,
»Man kommt zurecht. Was sonst. Natürlich kommt man zurecht«,
Oben auf der Straße fuhr ein Auto vorbei.
Fuhr nicht vorbei: hielt. Der Motor erstarb. Jacques sprang auf. Spähte angespannt hinauf zum Parkplatz, die Türen des Wagens flogen auf. Musik quoll heraus, im Schein der Innenbeleuchtung sahen sie einen Mann, eine Frau.
Die ausstiegen. Sich weiter oben in den Sand setzten, aus den offenen Türen strömte die Musik den Strand hinab: Salsa, Jacques’ Schultern, Arme entspannten sich wieder. Er machte ein paar Tanzschritte, grinste. Kam auf sie zu, streckte die Hand aus,
»Nein. Nein, ich kann gar nicht Salsa tanzen«,
Ergriff ihre Hand. Zog sie hoch. Zog sie mit sich hinunter zum Wasser: wo der Sand fest war, seine Jacke war rauh an ihrer Wange. Sie spürte seine Schenkel. Spürteden Druck seiner Muskeln an ihren
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