Meer ohne Strand
nach, aus reiner Erschöpfung. War ihm nicht gewachsen: seinen Bitten, versteckten Drohungen, wenn er sie hielt, spürte er ihre Rippen unter seinen Händen. Ihre Hüftknochen standen hervor, ihre Ellenbogengelenke. Schon nach ein paar Schritten war sie vollkommen erschöpft. War fast verrückt vor Schmerzen, wollte nie wieder aufstehen, er sagte, Du mußt durchhalten! Du mußt weitermachen, was glaubst du, wofür ich das alles tue? Warum ich noch hier bin, jeden Tag herkomme,
Aber das wußte er ja selbst nicht. Er war todmüde. Hatte keine Lust mehr, haderte mit sich: Konnte er noch immer nicht abreisen? Er war seit über zwei Wochen hier. War Ewigkeiten nicht mehr in seinem Büro gewesen, mußte sich allmählich auf seine Verpflichtungen besinnen, sie freute sich jedesmal, wenn er kam. Fragte ihn, wenn er ging: Wann kommst du wieder, Robert? Kommst du morgen wieder, Robert,
Sie wußte nun seinen Namen. Sprach seinen Namen aus: verriet aber nicht den ihren, er sagte zu ihr,
»Du sprichst deutsch. Du bist offensichtlich keine Amerikanerin, kannst du dich nicht daran erinnern, wann du hier hergekommen bist und warum«,
Sie saß in ihrem Bett. Die Schatten unter ihren Augen waren pflaumendunkel. Ihre Lippen waren wund: zerbissen, sie war heute zum erstenmal auf Krücken durchs Zimmer gelaufen. Sie gab ihm keine Antwort. Sagte nach einer Weile,
»Und du? Warum bist du hier. Warum tust du das alles für mich, hast du denn kein eigenes Leben«,
Aber darum ging es doch jetzt nicht: um sein Leben, er sagte,
»Ich will mein Leben jedenfalls behalten. Ich würde darum kämpfen. Ich würde mein Leben nicht aufgeben, niemals«,
Er wußte nicht, ob er log oder nicht. Sie sah die Wand hinter ihm an. Schien ernsthaft über seine Worte nachzudenken, sagte dann,
»Ich habe nie ein Leben gehabt. Dann habe ich es einmal probiert. Und dies hier ist das Ergebnis. Dies hier«,
Sie konnte also über ihr Leben reden. Konnte sich sehr wohl erinnern, sogar philosophisch werden, wollte ihmnur nichts verraten, der Ärger, der in ihm aufstieg, war beinahe angenehm. Sie sagte,
»Ich wünschte, ich wäre tot.«
Das brachte sie fertig: sich den Tod zu wünschen, während er neben ihr saß und sich um ihr Leben bemühte, es war alles vollkommen sinnlos. Er vergeudete seine Zeit.
In der Nacht lag er wach und überlegte, ob er ein eigenes Leben hatte.
Am Morgen rief er Bogner an. Ließ sich Bericht erstatten: über das Büro und Lagergebäude für den Großhändler der Bürotechnikbranche, alles ging glatt.
Auch ohne Robert: der sich selbst überflüssig machte, er mußte verrückt sein. War schließlich kein junger Mann mehr, riskierte aber seine Existenz, ohne auch nur zu wissen, wofür, die Eisprinzessin versuchte nicht, ihn zurückzuhalten.
Er stand an ihrem Bett, sein Flug war für den nächsten Morgen gebucht. Er hatte seinen Mantel nicht abgelegt: mußte noch eine Menge erledigen, packen, Gabriels Auto irgendwo unterstellen, sie murmelte,
»Ja, natürlich, es ist ja klar.«
Sagte ohne Ironie oder Vorwurf: »Du hast auch wirklich genug für mich getan, Robert«,
Rechtfertigte ihn also, er konnte es nicht erwarten, endlich hier wegzukommen. In der Tür wandte er sich noch einmal um. Sie hatte das Gesicht zur Wand gedreht.
Im Flugzeug bestellte er Whisky Soda. Bestellte zum Essen Rotwein, sein Nachbar kommentierte das Hähnchenfilet. Stellte sich vor: irgendein schwäbischer Name, den Robert sofort wieder vergaß, der Mann importierteLedergürtel, Westernhüte, Armeejacken nach Europa. Kommentierte später den amerikanischen Wirtschaftsaufschwung, die Spielergebnisse der Stuttgarter Kickers. Die überfällige Reform des deutschen Sozialsystems, wer kaufte denn bloß noch Westernhüte, in Deutschland? Robert fragte ihn nicht danach. Genoß es, über Dinge zu reden, die ihn nicht persönlich betrafen: Männersprache, die ohne Intimitäten auskam, später las er Zeitung.
Las jede Zeile, genußvoll, der Kanzler vertrat in China deutsche Wirtschaftsinteressen. Der DAX-Index hatte leicht angezogen. Die deutsche Literaturszene wartete weiterhin auf den wirklich großen, den finalen Berlinroman. Es gab ein Land namens Inguschetien. Über das auf einmal mit so lässiger Selbstverständlichkeit berichtet wurde, als hätte jeder einigermaßen weltläufige Journalist dort seit Jahren ein Ferienhaus, ein paar Wissenschaftler waren der Weltformel auf der Spur. Würde sich die Welt samt aller ungeschriebenen Romane, aller korrupten
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