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Meer ohne Strand

Meer ohne Strand

Titel: Meer ohne Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Friedrich
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sie sich mühevoll zwischen den Beinen einseifte, wie oft schon hatte er die Nacktheit fremder Frauen gesehen?
    Die Brüste, die Schamhaare fremder Frauen, in einer Sauna, am Münchner Eisbach, die Frauen trockneten sich ab, cremten sich ein. Streckten sich auf ihren Handtüchernaus. Lehnten sich in Liegestühle zurück mit gespreizten Schenkeln, redeten, rauchten, lasen eine Zeitschrift, er begutachtete sie mit distanziertem Interesse: wie Baupläne, die nicht von ihm stammten, dachte dann an etwas anderes.
    An seinen Job vielleicht, an etwas, das er gelesen hatte, hatte er diese Frauen begehrt? Vielleicht war eine von ihnen die Eisprinzessin gewesen, einmal fragte er sie danach. Wo hatte sie denn gearbeitet, gewohnt? Wo in ihrer Freizeit verkehrt, sie antwortete nicht. Er schämte sich, weil er sie mit diesen Fragen quälte, sie sagte: Schon gut. Wir könnten einander ja wirklich kennen,
    Erzählte ihm dann von einer Theorie: nach der ohnehin jeder Mensch mit jedem anderen über maximal sechs jeweils miteinander bekannte Personen verbunden sei, gleichgültig, wo er wohnte, sie erinnerte sich an dergleichen. Ihr Gedächtnis war ganz hervorragend, er dachte manchmal an andere Frauen.
    An Philippa, Julia, Natalie: an ihr Bedürfnis, erforscht zu werden, dann ihrerseits Robert zu erforschen in endlosen Gesprächen, die Eisprinzessin verlangte nicht, daß er sich für ihre Gefühle, Gedanken interessierte. Er wünschte, sie täte es. Er klopfte an die Tür: Aber sie machte nicht auf. Verschloß ihm die Tür: über deren Schwelle ihn andere Frauen gelockt, gezogen, geschoben hatten, einmal sagte er zu ihr: Wer bist du denn bloß? Wer bist du wirklich,
    Sie sagte: Und du? Kannst du mir denn sagen, wer du bist,
    Er sagte: Nein.
    Einmal fiel ihm eine Filmszene ein: eine Krankenschwester, die mit einem Patienten schlief. Mit einem Soldaten,der im Koma lag, warum war die Szene unerträglich, sobald man die Geschlechter vertauschte? Sich einen Krankenpfleger vorstellte, der einer bewußtlosen Patientin das Bettuch wegzog, seine Hose aufknöpfte, Robert half der Eisprinzessin abends ins Schlafzimmer. Half ihr beim Ausziehen, half ihr ins Bett: Wo sie jeden Morgen erwachte, ohne im ersten Moment zu wissen, wo sie war.
    Ohne zu wissen, wer sie war. Ohne sich dafür zu interessieren: Das erste war, daß sie den Schmerzgrad ertastete. Herausfinden mußte, wieviel Schmerz es gab heute: Aber die Menge des Schmerzes war immer die gleiche. Es gab kein Nachlassen, nur Variationen von Schmerz, im Kopf, im Genick, im Bein. In den Zehen.
    Oder dort, wo einst ihre Zehen gewesen waren, jeden Morgen schrie sie auf, wenn sie an diesem Punkt angelangt war. Preßte den Mund in das Kissen: um den Schrei zu dämpfen, erst dann konnte sie sich langsam aufrichten. Konnte eine Weile sitzen, warten, bis der Schmerz es ihr erlaubte, die Beine über den Bettrand zu schieben, dann griff sie nach der Glocke.
    Die er neben ihr Bett gestellt hatte, sie mußte sich zwingen, die Glocke zu läuten: Alle Geräusche waren ein Schmerz. Laute Geräusche wie das Klingeln der Glocke trieben den Schmerz hoch, an die Grenze des Erträglichen und darüber hinaus, sie konnte ihm das nicht sagen. Wollte nichts sagen, mußte sich zwingen, ihn überhaupt wahrzunehmen: Robert Brauer. Ihren Retter, er hatte verdient, von ihr wahrgenommen zu werden: Aber sie nahm sich selber nicht wahr. Alles war verschoben.
    War verrückt: Die Arme, Beine, die sie fühlte, befanden sich an einem anderen Ort als die Körperteile, diesich auf ihren Befehl hin tatsächlich bewegten. Sie mußte sich jede Bewegung befehlen. Jedes Detail eines Bewegungsablaufs mußte sie bewußt steuern, sie konnte es nicht mehr: ihrem Körper überlassen, wie er sich bewegte. Erinnerte sich nicht einmal mehr daran, wie es gewesen war, nicht über Bewegungen nachdenken zu müssen, das war das Schlimmste: der Verlust der Erinnerung. Daran, wie es war, zu gehen, zu laufen, sie hatte immer im Rhythmus gelebt. In den lebendigen Rhythmen des Laufens, des Gehens, eines sich hebenden, senkenden Arms, der Rhythmus war das Leben gewesen, sie hatte das nicht gewußt. Der Rhythmus war erst jetzt wahrnehmbar: weil verloren, ihr Körper war unbelebt. War unbewohnbar geworden: ließ sie aber nicht fortgehen. Ließ sie nicht ausziehen, sie konnte das Robert nicht erklären.
    Wollte ihm nichts erklären. Wußte, daß sie ihm Dankbarkeit schuldete, fühlte keine, er zeigte ihr einen Artikel. Über einen unterschenkelamputierten

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