Meer ohne Strand
Maurice wäre tot. Der Alte wahrscheinlichauch, jedenfalls hat er sich nicht mehr um ihn geschert. Hat ihn da unten liegenlassen und meine Mutter verdroschen, und wie er dann endlich runterging, um die Leiche wegzumachen, da war niemand mehr da.
Weil ich Maurice nämlich längst weggebracht hatte. Weggefahren, mit der Schubkarre, ich habe ihn zu Nachbarn gebracht«,
Jacques schwieg. Schüttelte dann den Kopf, als vertriebe er ein Insekt, Sina sah auf den Tisch. Wo die Salsa in der Schüssel gelierte, ein paar Ameisen Chipsbröckchen abtransportierten, Jacques sagte,
»Ich habe ihn so verachtet. Ich hab Maurice so dafür verachtet, daß er sich nicht gewehrt hat. Daß er sich das hat gefallen lassen, von meinem Alten. Daß er in dieses Bett reingeschissen hat, er war so ein Schlappschwanz. So ein verdammter angstschlotternder blöder Schlappschwanz, aber weißt du was? Geliebt habe ich ihn trotzdem noch. Auch während ich ihn verachtet habe, habe ich ihn immer weiter geliebt, das war das Schlimmste. Das war das Allerschlimmste«,
Der Regen ließ nach, hörte dann auf. Das Wasser, das über die Scheiben strömte, zog sich zu Rinnsalen zusammen, gerann dann zu Tropfen, in der Stille konnte Sina das Kind atmen hören. Konnte hören, wie es im Schlaf seufzte, sie sagte,
»Warum hast du ihn so genannt? Deinen Sohn, warum hast du ihn Maurice genannt«,
Jacques zuckte die Achseln. Ließ sich in seinen Stuhl zurückfallen, sagte,
»Keine Ahnung. Er mußte eben so heißen, keine Ahnung, warum. Mann, wenn ich so klug wäre, daß ich wüßte, warum, dann wäre ich bestimmt Präsident vonAmerika, los, trink noch einen Tequila mit mir. Ich erzähle dir noch was. Was Lustiges, von einem Hund«,
In dieser Nacht waren sie beide betrunken.
Lachten. Wanden sich in Lachkrämpfen, hingen über den Armlehnen ihrer Stühle wie eilig abgeworfene Kleider: weil Jacques ein Pornoheft entwickeln wollte. Für Herzmuscheln, Miesmuscheln, Venusmuscheln,
»Ich meine, wie pflanzen sich Muscheln fort? Mal ehrlich, das weiß doch kein Mensch, das Magazin wird Playmussel heißen. Nur echt scharfe Themen, Sexy Mussel Maids, What Mussels Really Need, Young Mussels Into Leather, ah, genau! Das müssen die Dinger gewesen sein, die wir neulich bei Captain D’s gegessen haben«,
Sie preßten die Hände vor den Mund, um Maurice nicht zu wecken mit ihrem Gelächter.
Der später zwischen ihnen lag, geborgen wie immer. Sina schlang den Arm um ihn. Fühlte seinen Atem, den vogelschnellen Herzschlag, war schon fast eingeschlafen. Traf dann auf Jacques’ Hand. Die sich mit ihrer verschränkte, über dem Körper des Kindes.
Sie fuhren in die Kühle. In die Kälte, am Anfang merkten sie es noch nicht: Sie waren aus der Zeit geraten. Oder die Zeit lief rückwärts, sie fuhren vom Sommer zurück in den Frühling: der das Spanische Moos Georgias grün zu färben begann, die Erde der Felder war rot, unter einer kalten Sonne. Das Gras war schütter, graugrün. Vorjahrsgras, zwischen armseligen Häuschen. Durchhängende Frontveranden. Hunde. Hühner. Dann die Pracht eines Ante-bellum-Herrenhauses, eine Eichenallee, vertraut aus irgendeinem Film, es war alles vertraut: Amerika.Es war vollkommen fremd: ohne das Glas eines Bildschirms zwischen Land und Betrachter, Sina selbst war sich fremd. Sah sie manchmal von außen, diese Fremde: eine kräftige junge Frau, die Wäsche wusch in einem Camp, ein Kind auf der Hüfte. Eine Frau in einem Männerpullover, im Führerhaus eines riesigen Mobile home, es war wunderbar, sich selbst fremd zu sein. In Jacksonville lud sie ein Delphintrainer zum Essen ein. In Savannah kämpfte ein ehemaliger Seemann für sie noch einmal gegen die Japaner, zwei Budweiser lang, irgendwo an einem hurricaneverwüsteten Strand rauchten sie einen Joint mit zwei minderjährigen Ausreißern.
Krempelten die Jeans hoch, zogen die Schuhe aus. Kletterten über die Wurzeln abgestorbener Bäume: die sich immer noch in den Sand klammerten, das Holz war knochenweiß. Das Wasser eisig, das Mädchen posierte. Schob die Hüfte vor, warf das Haar zurück. Öffnete die Lippen, sie war mager, zitronenblond. Sagte, sie wolle Model werden. Sei aus einem Heim abgehauen, ihr Freund schlug sie ins Gesicht. Lässig, mit dem Handrücken: als wäre es kaum der Mühe wert, Jacques sagte: Hey, Asshole.
Sah nicht auf: zerteilte eine Melone. Spießte Fruchtfleisch auf sein Messer, sagte: Hey. Entschuldige dich bei ihr, Asshole.
Asshole zögerte. Murmelte dann:
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