Meer ohne Strand
stark, Jacques kickte einen Stein. Kickte Sand hoch,
»Sie haben keinen Respekt«, sagte er. »Keinen Respekt vor der Vergangenheit, keinen Respekt vor dem Tod«,
Maurice quengelte. Drehte den Kopf, wand sich auf Sinas Arm. Schrie dann. Kämpfte vielleicht gegen den Wind an, schrie aber auch noch weiter, als er schon längst wieder auf dem Bett saß: wo Sina Bauklötze zu Türmen aufzubauen versuchte, die Türme stürzten aber um, er ließ sich nicht beruhigen. Ließ sich nicht hochnehmen, schrie und schrie immer weiter, warum? Krümmte sich auf dem Bett. Kämpfte gegen Unnennbares an, blind. Taub, unerreichbar in einer nur für ihn bestimmten, furchtbaren Welt, schließlich schlief er ein, aus reiner Erschöpfung.
In der folgenden Stille hörten sie, daß es zu regnen begonnen hatte. Jacques machte den Tequila auf. Schnitt Zitronen, riß eine Tüte mit Taco chips auf. Kippte scharfe Salsa in eine Schüssel, trug alles zum Tisch, sie tranken: ohne miteinander zu reden,
»Soll ich dir was erzählen?«
Sie nickte. Er beugte sich vor. Stützte die Ellenbogen auf den Tisch, fing dann an,
»Ich habe dir doch mal von diesem Typen erzählt. Vondem, den mein Vater aus dem Fenster geschmissen hat, weißt du noch? Weißt du noch, wie der hieß«,
Im selben Moment fiel es ihr ein: Maurice, Jacques sagte,
»Maurice. Ein Cajun. Er war ein Cajun, ein Franzose, verstehst du, genau wie ich, er war aus der Gegend von New Orleans. Er war immer bei uns. Er war viel öfter da als mein Vater, er kam jeden Nachmittag nach der Arbeit. Er arbeitete in einem Hotel, auf den Keys. Er war sehr geschickt. Er konnte alles reparieren: Autos, Motorräder, Kühlschränke, einfach alles, er war nicht groß, aber drahtig. Er konnte Gitarre spielen. Er hat mir gezeigt, wie man schnitzt, wie man fischt, alle Leute respektierten ihn. Er hat mir mein erstes Messer geschenkt. Er hat mir meinen Namen gegeben. Meinen richtigen Namen: Jacques, er hat zu mir gesagt: Du kannst sein, was du sein willst, Jacques. Du kannst dein Leben jeden Tag ganz von vorn anfangen, ich hab natürlich gar nicht kapiert, was er damit meint. Aber ich hab es ihm geglaubt. Ich hab ihm immer alles geglaubt«,
Jacques verstummte. Stand auf, holte ein Bier. Stellte Sina ein Bier hin, setzte sich wieder. Schlug leicht mit dem Rand der Bierbüchse an seine Zähne, sagte,
»Natürlich hat er bei uns geschlafen, wenn mein Alter nicht da war. Im Bett meiner Mutter hat er geschlafen, und da hat der Alte ihn auch gefunden, ich weiß es noch ganz genau. Es ist, als wäre es gerade erst passiert, ich bin zwölf. Ich liege in meinem Bett und schlafe, da höre ich, wie meine Mutter schreit. Ich springe auf, schleiche mich raus auf den Flur. Die Schlafzimmertür ist offen. Drinnen steht der Alte am Bett und hält Maurice seine Knarre an den Kopf. Meine Mutter schreit die ganze Zeit, aber derAlte beachtet sie gar nicht. Er sieht nur Maurice. Maurice starrt ihn an, meinen Alten. Maurices Augen sind riesig. Er muckst nicht und zuckt nicht, dann holt mein Alter einen Joint aus der Hemdtasche. Er hatte ja immer einen fertigen Joint irgendwo, er zündet den Joint an, dann schiebt er ihn Maurice zwischen die Zähne. Da, du Scheißkerl, sagt er zu ihm. Zieh mal kräftig, dann tut es nachher nicht so weh.«
Der Regen trommelte auf das Dach. Das Wasser strömte in breiten Bächen über die Scheiben, in Wasservorhängen, die ihnen die Sicht nahmen, Jacques sah Sina nicht an. Goß Tequila in sein Glas, streute sich Salz auf die Hand, sagte,
»Maurice hat sich in die Hosen gemacht.«
Leckte am Salz, trank den Tequila. Schob einen Zitronenschnitz in den Mund, saugte daran. Sagte durch die Zitronenschale,
»Oder er hatte ja gar keine an. Er hat ins Bett gemacht. In das Bett, wo meine Mutter drinlag, da hat er reingeschissen, mein Freund Maurice, ich konnte es gurgeln hören bis in den Flur. Ich konnte es riechen, der Alte hat gelacht wie verrückt. Hat das Bettzeug vom Bett gerissen, damit man die Scheiße auch sehen konnte, dann hat er Maurice aus dem Bett gezerrt und ans Fenster getrieben. Und dann hat er ihm den Joint an den Hintern gehalten. Der Hintern war ganz voller Scheiße, verstehst du, Maurice hat geheult. Gebettelt hat er, ich habe alles gehört. Der Alte hat ihm ein Loch in den Hintern gebrannt. Dann ist Maurice aus dem Fenster gesprungen. Der Alte hat ihm den Joint hinterhergeschmissen. Hat gebrüllt, jetzt hätte ihm die Scheiße auch noch den Joint ruiniert, ich habe gedacht,
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