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Meeresblau

Meeresblau

Titel: Meeresblau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Strauß
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singend davon. Nur die wenigsten verließen würdevollen Schrittes und aufrecht den Ort des Geschehens. Auch Maya, Jeanne, Solander und Alan strichen alsbald die Segel.
    „Mach nicht mehr so lange“, sagte Maya und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Ein lähmender Schmerz klaffte bei dieser Berührung in ihm auf. Er musste es schaffen, zurückzukehren. Er würde nicht zulassen, dass das Meer sie trennte. „Morgen wartet Arbeit auf uns“, nuschelte sie. „Foraminiferenschalen, zehntausend Jahre alter stinkender Schlamm, Einzeller und Algen aus den Tiefen der Urzeit, die uns alles über das Klima von damals verraten. Gute Nacht.“
    „Schlaft gut.“ Er schaute dem Arm in Arm davonschwankenden Grüppchen hinterher. Dann war er allein, und es fühlte sich sonderbar an. Als hätte in diesem Augenblick eine neue Wirklichkeit begonnen. Langsam ging er zur Reling, lehnte sich darüber und hörte den Stimmen zu, die aus nächster Nähe kamen. Seine Artgenossen waren hier. Draußen bei den Walen. Das Wasser war ruhig, kein Luftzug ging. Wie ein Geisterschiff schien das Stahlmonster auf der Stelle zu schweben. Vielleicht, wenn er sich die Gesichter von Maya und Jeanne fest einprägte und diese Bilder nicht losließ, würde er es schaffen.
    Noch einmal überzeugte er sich, dass niemand in der Nähe war. Diese Nacht war der Moment, auf den er gewartet hatte. Christopher kehrte zum Heck zurück, nahm die Leiter von der Wand und hakte sie in die vorgesehen Löcher ein. Schnell entledigte er sich seiner Kleidung, legte sie zwischen die Container und sah sich ein letztes Mal um. Nichts. Das Deck war gähnend leer und die Stille so intensiv, dass es in seinen Ohren summte.
    Stufe für Stufe kletterte er die Leiter hinunter. In ihm herrschte eine sonderbare Ruhe. Kein Herzrasen, keine Erregung, selbst die Angst war gewichen. Er würde es schaffen. Er musste es schaffen!
    Als seine Füße in das Wasser eintauchten, gefolgt von den Waden, den Oberschenkeln und den Hüften, murmelte er Mayas und Jeannes Namen vor sich hin, wie ein Mantra, das ihn in dieser Welt halten würde. Dann, nach einem letzten, mühsamen Atemzug, tauchte er ins Wasser. Wie ein Sturm strömten die Stimmen auf ihn ein.
    Endlich … wir kommen zu dir … wir kommen …
    Er kreuzte die Arme vor der Brust und ließ sich tiefer sinken. Das Prickeln und der Schmerz blieben aus, auch sein Geist war nach wie vor klar. Genüsslich ließ er das Wasser durch seinen Körper strömen und spürte, wie seine Lungen sich damit füllten.
    Die Wesen kamen näher. Durch das dunkle Blau schossen sie auf ihn zu, ungeduldig und aufgeregt wie Kinder. Noch tiefer sank er, zum Grund, der sich weit unter ihm erstreckte. Seine Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit, was erstaunlich war und doch wieder nicht, denn der menschliche Sinn hätte kläglich versagen müssen. Offenbar besaß er wie viele in der Tiefe lebende Geschöpfe die Fähigkeit, selbst kleinste Lichtanteile noch wahrzunehmen und zu verstärken. Seltsam war, dass der Pazifik sich anders anfühlte als der Atlantik. In diesem Meer lag eine gewaltige, allumfassende Ruhe, als sei dies das Wasser, das alle Erinnerungen seit Anbeginn des irdischen Lebens gespeichert hatte. Jegliches Zeitgefühl ging verloren. Wie tief er gekommen war, sagten ihm lediglich der Druck und die seltsamen Gestalten, die unter ihm auftauchten. Auf einer Wüste aus dunklem Schlick wuchsen Schwämme zart wie Kristallglas und Manteltiere, die wie durchsichtige Mäuler nach Nahrung fischten. Bleiche Fische schlängelten über den Grund. Er sah Asselspinnen mit langen, dünnen Beinen, hellblau leuchtende Garnelen und Muscheln, die die rar gesäten Felsen bevölkerten. Da waren Tiefseekorallen, wie weiße, vielfach verzweigte Geweihe geformt und vermutlich Jahrtausende alt, Schwärme winziger Ruderfußkrebse und reglos auf drei langen Flossenstrahlen dastehende Stelzenfische. Von weit her hörte er das Sonar eines jagenden Pottwals, selbst aus der Entfernung so stark, dass es seinen Körper elektrisierte.
    Noch immer war sein Verstand klar und ohne jede Trübung. Lag es an dem Gefühl, das ihm dieser Ozean vermittelte? Der Atlantik war ihm fordernd und wild erschienen, der Pazifik hingegen wie eine weise, sanfte Macht. Laut den Messgeräten war das Wasser an dieser Stelle mehr als eintausend Meter tief. Wie konnte es sein, dass er diesen Druck ertrug? Es tat nicht weh, eher fühlte es sich an, als schlösse sich eine große Faust um seinen

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