Meeresblau
den Druck, der seinen Körper zusammengepresst hatte, an das unbeschreibliche Gefühl, tief unten im Meer zu sein. Am schönsten aber war das Wissen, Hoffnung in seinesgleichen zu wecken.
Offenbar war ihm unbemerkt die Zeit davongelaufen, denn am Horizont dämmerte bereits der Morgen. Noch immer war niemand zu sehen. Die Mannschaft schlief nach wie vor ihren Rausch aus und nicht einmal einer der Matrosen ließ sich blicken. An die Reling gelehnt verspeiste er zufrieden die Schokolade. Mit dem Sonnenaufgang kam lauer Wind auf. Liebkosend strich er über das Meer, ließ es sich wellen und glänzen wie Satin. War ihm die Tiefe sonst wie eine finstere Macht erschienen, die ihn von allem, was er liebte, fortreißen wollte, empfand er sie mehr und mehr als Heimat. Er kannte seine Aufgabe, und er würde sie so gut wie möglich erfüllen.
„Guten Morgen. Schon wach?“
Erschreckt fuhr er herum. Hinter ihm stand Nico, in einen zerknitterten, kakifarbenen Anzug gekleidet, der an klassische Abenteuerfilme erinnerte.
„Ich konnte nicht schlafen.“ Weich schmiegte sich der Körper des Seesterns in seine Faust. Was würde dieser Mann sagen, wenn er die Wahrheit wüsste? Ein Lachen kitzelte in seiner Kehle, denn etwas an der Situation war skurril.
„Mir geht’s genauso. Möchtest du einen?“
Nico übersah mit vehementer Sturheit Christophers Körpersprache. Statt ihn allein zu lassen, hielt er ihm einen Kaffeebecher entgegen und nippte an dem zweiten. Das verlockende Aroma des Dampfes stieg ihm in die Nase, doch der Sinn stand ihm eher nach etwas Fruchtigem. Nach einem dieser frisch gepressten Säfte zum Beispiel.
„Nimm schon“, drängelte Nico. „Ich habe extra zwei genommen, weil ich dich hier oben gesehen habe. Jeder braucht um diese Zeit einen Koffeinschock.“
„Der Kaffee aus dem Automaten schmeckt wie Motoröl.“
„Jetzt nimm schon. Sonst hab ich ihn umsonst bezahlt. Er ist nicht überragend gut, das stimmt. Aber er macht wach.“
„Ich bin wach.“
„Willst du mich allein trinken lassen? So wie jeder andere auf diesem Schiff?“
Er seufzte. Man musste kein Psychiater sein, um diesen Menschen zu durchschauen. Zu viel Neid, zu viele unerfüllte Träume. „Also gut. Meinetwegen.“
Er nahm einen Schluck vom Gebräu und hoffte, seinen unliebsamen Besucher damit zufriedengestellt zu haben. Doch Nico blieb. Ungeachtet der Tatsache, dass er sich erneut demonstrativ abwandte. Was stimmte mit diesem Mann nicht? Fieberhaft nervös spielte Nico mit seinem Pappbecher herum, trat von einem Bein auf das andere und kratzte sich am Ziegen-bart. Nun gut, er musste ihn nur lange genug ignorieren. Früher oder später gab jeder auf, selbst der penetranteste Zeitgenosse. Schweigend starrte er auf das Meer hinaus, aalte sich in ersten Sonnenstrahlen und lauschte, dann und wann einen Schluck Kaffee schlürfend, dem Pfeifen und Klicken einer vorbeiziehenden Delfinschule. Diesmal empfing er keine Bilder oder Gefühle. Zu beschäftigt mit der Jagd, schienen die Tiere seine Nähe nicht einmal zu bemerken.
Nico währenddessen blieb hartnäckig. Die ruhelosen Blicke und das Gezappel gingen ihm langsam auf die Nerven. Wenn dieser Kerl nicht gehen wollte, dann ging eben er. Gereizt trank er den inzwischen lauwarmen Kaffee aus, warf den Becher in den Mülleimer und wandte sich zum Gehen.
„Hey …“ Nico hielt ihn an der Schulter fest.
„Was?“
„Ich … ähm …“
„Was ist los mit dir? Ich bin müde, also bitte.“
Er schüttelte Nicos Griff ab, langsam davor, wütend zu werden. Nach ein paar Schritten überfiel ihn aus heiterem Himmel ein Gefühl von Übelkeit. Sein Gleichgewicht kränkelte. Er sank gegen das Geländer der Reling, blinzelte ein paar Mal und hoffte, dass es besser werden würde. Doch das Gegenteil war der Fall. Alles hüllte sich in Nebel. Er sackte in die Knie, ohne etwas dagegen tun zu können.
„Geht’s dir nicht gut?“ Nicos Stimme hallte aus weiter Ferne zu ihm herüber. „Zu viel getrunken, was?“
„Habe gar nichts getrunken.“ Panik stieg in ihm auf. Hatte sein Ausflug ins Wasser wieder etwas ausgelöst? Eine weitere Verwandlung, die sich diesmal völlig seiner Kontrolle entzog? Plötzlich lag er auf dem Boden, Nicos Gesicht nah über seinem. Der Himmel, der Mann und das Schiff hüllten sich in bunte Schlieren.
„Ich habe dich gesehen, Freundchen. Willst du mir nicht erklären, wie du es schaffst, fast eintausend Meter tief zu tauchen? Oder was ist das hier?“
Nico zog ihm
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