Meeresblau
Körper und drückte sanft zu. Die Lösung lag höchstwahrscheinlich darin, dass er Wasser einatmete und seine Lungen damit füllte. Flüssigkeiten glichen den Druck besser aus als luftgefüllte Hohlkörper. Vermutlich speicherte sein Körper den notwendigen Sauerstoff in Blut und Muskeln und fuhr den Stoffwechsel auf ein Minimum herunter. Ein Anzeichen dafür war, dass sein Herz langsamer schlug und jede Bewegungerschien, als führte er sie in Zeitlupe aus.
Vorsichtig berührte er eine durch den Schlick kriechende Seegurke, die mit blaugrünem Leuchten reagierte. Er ließ sie in Ruhe weiterziehen und widmete sich einer Gruppe Venuskörbchen, die wie kostbare Vasen vor ihm aufragten, einige so klein wie ein Finger, andere lang wie ein Unterarm. Aufgebaut wie ein netzartiger Käfig aus feinstem Glas, funktionierten sie auch als solcher – in ihrem Inneren lebte jeweils ein Garnelenpärchen, hineingekrochen als Larven und nun, da sie ausgewachsen waren, gefangen in einem willkommenen Gefängnis, das sie vor Fressfeinden schützte.
Schatten huschten aus der Dunkelheit auf ihn zu und ließen einen Schwarm erschreckter Ruderfußkrebse aufleuchten wie Millionen winziger Blitze. Er zählte erst vier, dann acht Wesen. Sie umringten ihn und berührten ihn mit langen, knochigen Fingern.
Endlich … endlich
…
So lange haben wir gewartet … so lange … auf den, der Wasser und Land in sich vereint
.
Ungläubig betrachtete er die Geschöpfe. Ihr langes Haar war schwarz, ihre Gesichter ausgezehrt und hager. Er erkannte sechs weibliche und zwei männliche Wesen. Sieben von ihnen besaßen dunkel gefärbte Fischleiber mit grünlich schimmernden, unauffälligen Mustern. Nur eines der weiblichen Wesen leuchtete ähnlich hell und auffällig wie die Meerjungfrau und er selbst. Jedes dieser Geschöpfe war gezeichnet von einer Zeit des Versteckens und der Angst. Sie waren wie machtlose Geister. Blasse Erinnerungen ihrer selbst.
Ihre Hände glitten über seine Haut. Sie zogen an seinem Haar, umfassten sein Gesicht und versuchten, ihn weiter vom Schiff abzudrängen. Hinaus in die Finsternis. Wie ein Wirbelsturm huschten sie um ihn herum, wild durcheinander zischend und säuselnd.
Genug! Geht weg von mir
.
Sie gehorchten erschreckt. Stumm schwebten sie vor ihm in der Finsternis, blickten so verzweifelt, dass er seine rüden Worte bereute.
Ich muss wieder gehen. Ich muss euch beschützen. Das kann ich nur als Mensch. Und bleibt dem Schiff fern. Versprecht es mir
.
Eines der weiblichen Wesen schwamm heran. Ihre kalten Arme schlangen sich um ihn.
Geh nicht! Höre nicht auf das Blut deines Vaters. Du bist jetzt bei uns. Hier bist du zu Hause
.
Er spürte ihre wilde Verzweiflung, als er sich losriss und zurückwich.
Wenn ich nicht zurückkehre, werden sie euch finden. Nur ich kann sie davon abhalten, in eure Welt einzudringen. Geht. Versteckt euch wieder. Wenn die Zeit kommt, kehre ich zurück
.
Seine Hand schloss sich um einen kleinen, toten Seestern, dessen lebende Artgenossen zu Hunderten im Schlick lagen. Ein Beweis dafür, dass er hier gewesen war.
Ich komme zurück. Bald
.
Ehe sie ihn erneut festhalten konnten, stieß er sich vom Boden ab und schwamm zur Oberfläche. Die Wesen wagten es nicht, ihm zu folgen. Die Tatsache, dass er freiwillig zu den Menschen ging, hinauf in die feindliche, gefürchtete Welt aus Luft und Erde, machte sie fassungslos.
Noch immer ließ der verstandesauslöschende Rausch auf sich warten. Mit ruhigen, kraftvollen Bewegungen strebte er zur Oberfläche, beseelt von einer neuen Kraft, die in dem Wissen lag, sich beherrschen zu können. Er war stark genug, um zu widerstehen. In ihm vereinten sich Wasser und Land, beide Welten waren sein Zuhause.
Es gab keine Notwendigkeit mehr, sich zu entscheiden.
Als er die Leiter erreichte und sich daran hinaufzog, drang ein Lachen aus seiner Kehle, das sich befreiend anfühlte. Leise zog er sich auf das Schiff hinauf, ging zu den Containern und zog sich wieder an. Das Atmen und Aushusten des Wassers tat weh, aber es war erträglich. Überraschend schnell nahmen seine Lungen ihre Arbeit wieder auf. Der silberne Schimmer der Haut verschwand, die Häute zwischen den Fingern verkümmerten.
Wie trunken vor Glück zog er sich aus dem Automaten einen Schokoriegel und kehrte an die Reling zurück. Eine Weile betrachtete er den Seestern, dessen Arme schlaff über seine Hand hingen, und versetzte sich noch einmal in das Gefühl der Tiefe. Er dachte an die Stille, an
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