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Meeresblau

Meeresblau

Titel: Meeresblau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Strauß
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Blättern. Sie streichelten seinen Körper wie Finger, schlangen sich um seine Hüften, um Arme und Schenkel. Mondlicht goss Säulen aus Licht in das Wasser. Der Genuss, der ihn durchströmte, glich einer Geburt, denn es war, als spürte er zum ersten Mal das Leben und all seine Sinnlichkeiten.
    Eine Weile tat er nichts anderes als inmitten des Waldes umherzutreiben, den Fischen und den Quallen zuzusehen und zu spüren, wie die See seinen Körper durchströmte. Niemals wollte er wieder zurückkehren. Zurück in eine Welt, in der sein Körper so schwer war wie Stein, erfüllt von sinnlosen Zweifeln und Ängsten. Menschen konnten unter Wasser nicht leben. Obwohl das Wasser voller Sauerstoff war, konnten sie ihn nicht atmen. Wie hatte er jemals glauben können, zu ihnen zu gehören? Warum hatte er so lange dort oben durchgehalten?
    Jeanne …
    Der Name geisterte durch seinen Kopf. Fern und träumerisch. Seine Schwester dort oben in der Welt aus Luft und Erde. Irgendwann würde sie ihn vergessen. Irgendwann würde sie wissen, dass es so richtig war.
    Ein schmerzhaftes Kribbeln in den Beinen stieß in seinem Unterbewusstsein eine weitere Erinnerung an. An Land hatte er sich Tag für Tag blutig gekratzt. Doch hier fiel es ihm leicht, das Jucken zu ignorieren, und so schwamm er unbekümmert dem offenen Ozean entgegen. Es bereitete ihm keinerlei Mühe. Er war eins mit dem Wasser und es trug ihn, wohin auch immer er wollte.
    Aus dem Blau tauchte das Riff auf, eine düstere Landschaft aus Schluchten und schroffen Felsgraten. Menschenaugen sahen nur die obersten Spitzen dieses Gebirges und wussten nichts von der Welt, die sich unter der Oberfläche verbarg. Denn hierher wagten sich wegen der Strömungen nicht einmal die Fischer. Tiefer und tiefer ließ er sich hinabgleiten, bis es in den Ohren rauschte und der Druck seinen Brustkorb zusammenschnürte. Es tat weh, doch kaum hatte er einen tiefen Atemzug genommen und das Wasser in sich hineingesogen, wie Menschen Luft holten, verging der Schmerz. Er atmete das Wasser. So, wie er es längst hätte tun sollen.
    Er sank hinab, bis ihn völlige Finsternis einhüllte. Der Druck des Wassers sang in seinen Ohren. Es war ein Rauschen, das sich steigerte und in einem schmerzhaften Knacken endete. Irgendetwas musste sein Gehör freigelegt haben, denn jetzt vernahm er noch weitaus mehr. Eine solche Vielfalt an Lauten strömte auf ihn ein, dass er nur wenige benennen konnte. Das Geräusch der am Riff vorbeifließenden Strömung, die Klicklaute von Delfinen, Sonargeräusche und metallische Töne vonSchiffen und U-Booten. Er hörte das Rumpeln der Fischernetze, die über den Meeresgrund gezogen wurden und das Tuckern eines Krabbenkutters. Selbst den Klang der Muscheln, die ihre Schalen auf- und zuklappten, um zu atmen. Und der Laut, den Seetang verursachte, wenn seine Stängel sich aneinander reiben.
    Lange ließ er sich hinabtreiben, bis er felsigen Grund unter seinen Füßen spürte. Der Boden der Schlucht. Wie still es hier unten war. Als könnten all die Geräusche und Klänge, die zuvor auf ihn eingestürmt waren, die Dichte des Wassers nicht durchdringen. Bewegungslos verharrte er in der Dunkelheit, sog die Stille auf und machte sich bewusst, dass er hier war. Tief auf dem Meeresgrund. Wo kein Mensch überleben konnte. Dieses Wissen, obwohl durchdrungen von fernem Schrecken, erfüllte ihn mit nie gekannter Freude. Es bewies ihm, dass er anders war. Kein Mensch. Kein Geschöpf des Landes. Ungläubigkeit durchdrang seinen Rausch, gefolgt von zurückkehrenden Erinnerungen. Jeder Augenblick, den er hier unten verbrachte, veränderte ihn mehr. Er wollte es zulassen, wollte sich endlich ganz befreien, doch das Wissen, dass Jeanne ihn brauchte, kehrte mit aller Macht zurück. Er glaubte, ihre Stimme in seinem Geist zu hören und ihre Sorge zu spüren. Das Kribbeln in seinen Beinen wurde stärker, breitete sich in seinem Körper aus und bereitete die Veränderung vor. Er musste zurück, bevor es zu spät war. Noch hatte er die Grenze nicht überschritten. Das Riff glich einer Mauer vor dem offenen Ozean und schirmte ihn von einer Verlockung ab, der er niemals hätte widerstehen können. Solange er diese Grenze nicht überschritt, war das Band, das ihn an das Land fesselte, noch spürbar.
    Kraftvoll stieß er sich vom Grund ab und wagte nicht, sich umzudrehen. Hinter ihm begann das ewige Blau aus Jacks Lied. Stimmen strömten aus der Weite zu ihm und zehrten an seinem Geist, wollten die Gedanken

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