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Meeresblau

Meeresblau

Titel: Meeresblau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Strauß
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an Jeanne aus ihm tilgen und ihn endgültig vom Land trennen – doch er musste zurück. Er musste zu seiner Schwester, ganz gleich, wie verlockend der Gedanke war, sich von allem zu lösen. Er schwamm weiter, kämpfte gegen den Sog der Strömung an und hörte die Stimmen lauter rufen. Sie waren nicht mehr sanft und flehend, sondern zornig.
    Verlasse uns nicht! Komm zu uns … befreie dich!
    Du darfst nicht zurück!
    Komm, bevor es zu spät ist!
    Der scharfe Ton verstärkte seinen Entschluss. Niemand befahl ihm. Absolut niemand.
    Unter ihm glitt das Riff vorbei, etwas Helles schimmerte an einem der Felsen. Unwillkürlich hielt er inne. Es war ein abgerissenes Stück Netz, das sich an einem spitzen Vorsprung verfangen hatte. In seinen Maschen wand sich ein Katzenhai, der vor Erschöpfung auf dem Rücken trieb. Schneeweiß schimmerte der Bauch des Tieres, nur noch matt öffnete und schloss sich das Maul, um Sauerstoff durch die Kiemen strömen zu lassen. Hektisch sah er sich um. Ganz in seiner Nähe klebte eine Halsabschneider-Muschel am Stein. Menschen hatten ihr diesen Namen gegeben, weil die Kanten ihrer Schalen scharf genug waren, um Kehlen aufzuschlitzen. Vorsichtig brach er sie vom Felsen ab, schwamm zum Hai und nahm ihn behutsam in die Arme. Das Tier begann, mit letzter Kraft zu zappeln. Todesangst flutete Christophers Geist und gab ihm das Gefühl, er selbst sei es, der sie empfand. Wie seltsam. Fast war es, als spürte er die Gefühle dieses Geschöpfes. Er empfand sie so deutlich und klar, als wäre es seine Natur, fremde Emotionen zu empfangen.
    „Ganz ruhig“, sprach er in Gedanken. „Ich will dir helfen.“
    Gehorsam erschlaffte das Tier. Er erlaubte sich nur einen kurzen Moment fassungsloser Freude. Mit der freien Hand versuchte er, das Netz zu zerschneiden, und jetzt, da er mit beiden Händen arbeiten konnte, waren seine Bemühungen erfolgreich. Ein Strang zerfiel unter den scharfen Rändern der Muschel, zwei weitere, die sich um die Schwanzflosse des Hais gewickelt hatten, waren bald durchschnitten. Eine letzte Fessel fiel, und das Tier tauchte mit müden Bewegungen in die Tiefe jenseits des Riffs ab. Dankbarkeit wehte durch seinen Geist. Dann eine Abfolge verschwommener Bilder und Eindrücke, seltsam eingefärbt und für sein Empfinden fremdartig, da sie mit den Sinnen eines Hais wahrgenommen wurden. Ein Fischschwarm, in den er hineinschoss, um zu jagen. Panik, Blut und rauschhafte Gier. Eine Höhle tief im Riff, in der er schlief. Seetang, an dem filigrane, transparente Eikapseln hingen, in denen sich winzige Haikörper bewegten und noch kleinere Herzen schlugen.
    Ihm fiel nichts Besseres ein, also beantwortete er diese Botschaft mit der Emotion, die er am stärksten empfand: Freude.
    Erst lange, nachdem der Fisch seinen Blicken entschwunden war, verschwand er auch aus seinem Geist. Wenn er die Gefühle und Wahrnehmungen dieses Wesens lesen, mit ihm kommunizieren konnte, war es bei jedem anderen Tier ebenso? Er fragte sich, was ein Wal empfand, wenn er die Ozeane durchmaß. Oder eines der scheuen Tiefseegeschöpfe, die so fremdartig waren, dass sie einem anderen Planeten zu entstammen schienen. Ganze Schatzkammern voller Wissen warteten dort draußen. So viele Erfahrungen und Welten, die es zu entdecken galt.
    Aber er musste zurück in sein menschliches Leben.
    Die Zerrissenheit erfüllte ihn mit Zorn. Energisch zerrte er an dem Netz, damit es keinen weiteren Schaden anrichten konnte, als er plötzlich bemerkte, dass sein Bein festhing. Mehrere feine, kaum sichtbare Stränge hatten sich um Fußgelenk und Wade gewickelt. Verdammt! Er war unter Wasser. Was tat er hier? Warum kehrte ausgerechnet jetzt das Bewusstsein zurück, zweiunddreißig Jahre als Mensch gelebt und geatmet zu haben?
    Adrenalin raste durch seinen Körper. Er kämpfte gegen die aufkommende Panik an und versuchte, die Stränge mit der Muschel zu zerschneiden, doch er rutschte ab und bohrte sich die scharfe Kante in die Hand. Eine Wolke aus Blut breitete sich im Wasser aus.
    Der Drang zu atmen kehrte mit aller Macht zurück.
    Er schnitt weiter, während ein höllischer Druck den letzten Rest Sauerstoff aus seinen Lungen presste. Es gelang ihm noch, einen zweiten Strang zu zerschneiden, dann zog sich ein schwarzer Schleier um ihn zusammen. Jeanne würde niemals erfahren, was mit ihm geschehen war. Das Meer würde ihn verschlucken und sie für immer in Ungewissheit lassen. Alles war nurIllusion. Er musste atmen, doch das Wasser ließ

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