Meeresblau
ihn nicht. Es würde ihn töten wie zahllose Menschen zuvor. Sein Bewusstsein schwand. Alles löste sich auf und wurde zu schwarzem Nichts.
Der Tod …
Doch sah man im Sterben blauen Himmel durch das Wasser schimmern? Sah man Strahlen aus Licht? Nach Momenten der Finsternis glitt der Schleier wieder auf. Noch immer war er unter Wasser, und es war Tag. Ein sonniger Wintertag, dessen Licht das Meer azurblau leuchten ließ. Als er einen Atemzug nahm, hieß ihn das Wasser wieder willkommen. Sauerstoff strömte durch seine Körperzellen, kühl und rein. Doch diesmal fühlte es sich anders an. Er hatte das ungute Gefühl, eine Grenze überschritten zu haben. War eine Rückkehr noch immer möglich?
Ein Blick zur Oberfläche zeigte, dass die Ebbe kam. Von der offenen See näherte sich ein Fischerboot. Stunden mussten vergangen sein. Stunden, in denen er unter Wasser gefesselt gewesen war. Er musste zurück, und zwar schnell. Wie durch ein Wunder hatte er während seiner Bewusstlosigkeit die Muschel festgehalten, also begann er, zu schneiden.
Als der letzte Strang fiel, glitt ein Schatten über seinen Kopf hinweg. Er erstarrte und fragte sich, ob er für jemanden, der sich über den Rand beugte, zu erkennen war. Es war unfassbar. Er hatte überlebt. Er atmete, wo kein Mensch atmen konnte und empfand in eisigem Wasser keine Kälte. Wenn sie wüssten, was er war, würden sie ihn bis ans Ende der Welt verfolgen, um sein Geheimnis zu erforschen. Der Wissenschaftler in ihm wollte nichts anderes, doch der Teil, der als Bruder und Liebender fungierte, befürchtete, den Kampf gegen das Meer zu verlieren. Hatte er zuvor die Wahrheit in den Worten der Fremden nur geahnt, erfüllte ihn nun eine schreckliche Gewissheit. Seine Menschlichkeit war in dieser Nacht ausgelöscht worden. Er hoffte, dass es einen Weg zurück gab. Für Jeanne.
Unendlich mühsam kam er voran, und wäre die Ebbe nicht gewesen, die das Land hatte näher rücken lassen, wäre die See zweifellos stärker gewesen. Schwer wie ein Stein fühlte sich sein Körper an, als er die Füße in den Sand stemmte und sich aufrichtete. Er wollte nach Luft ringen, doch ein sengender Schmerz raste durch seine Nervenbahnen und zwang ihn zu würgendem Husten. Wasser verließ seine Lungen in hohem Bogen. Dem ersten Schwall folgte ein zweiter und dritter, erst dann konnte er atmen. Es fühlte sich an, als saugte er winzige, scharfe Klingen in sich hinein. Die Furcht, sich zu sehr verändert zu haben, lähmte für einen Augenblick seine Gedanken.
Egal, er musste weiter. Zurück zu Jeanne. Schritt für Schritt watete er an den Strand. Wenn jemand ihn sah, musste er glauben, einen Betrunkenen zu beobachten. Diese verdammte Erde gab ihm das Gefühl, schwer wie ein Walross zu sein. Seine Lungen brannten und seine Beine schmerzten. Alles in ihm schrie danach, sich umzudrehen und ins Wasser zurückzulaufen. Doch er ging weiter. Stur und entschlossen.
Als er seine Kleidung erreichte und sie überstreifte, erschien ihm dieser Vorgang grotesk. Socken, Schuhe, Unterhose. Das alles war merkwürdig, lächerlich und völlig verrückt. Beim Zubinden der Schnürsenkel fiel ihm der Schnitt auf seiner Daumenwurzel ins Auge. Es tat nicht weh, und deshalb verblüffte ihn die tiefe, hässliche Wunde umso mehr. Als er die Hand prüfend bewegte, durchzuckte ein Stechen seine Nervenbahnen. Der Schnitt begann wieder zu bluten. Mit grimmiger Faszination beobachtete er, wie rote Tropfen in den Schlick fielen. Immerhin, das sah nach wie vor wie menschliches Blut aus. Oder war jeder Eindruck von Normalsterblichkeit seit jeher nur Illusion gewesen? Nach allem, was geschehen war, mutete es seltsam an, wieder den Wissenschaftler in sich erwachen zu spüren. Er lief weiter, als bewegte er sich durch eine Illusion. Seine Beine trugen ihn mit vehementer Sturheit, mahnten ihn daran, wohin er gehörte. Sein Geist aber verzehrte sich danach, wieder die Schwerelosigkeit des Wassers zu spüren.
Es war kein Kampf gegen die See, den er auszufechten hatte.
Es war ein Kampf gegen sich selbst.
Inzwischen war der Schnee restlos geschmolzen, denn der neue Tag hatte einen milden Wind gebracht. Grell schien die Sonne vom Himmel, tauchte das Land in surreale Farben. Die Klippen, das Gras, die weiß gekalkten Häuser. Ohne die blaue Weichheit des Wassers wirkte alles scharf und abweisend. Ihm wurde schwindelig. Das Letzte, was er sah, bevor seine Beine nachgaben, war seine Schwester, die auf ihn zurannte.
Im Halbschlaf
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