Meeresblau
schlurfte Maya in ihr Büro, ließ sich in den Sessel fallen und bemitleidete sich eine Runde. Vier Stunden Schlaf hatte sie ergattert, was kein schlechter Schnitt war, wären diese kostbaren Stunden nicht unterbrochen worden von einer Lache Katzen-Erbrochenem direkt vor dem Bett, gelangweiltem Gemaunze und einem nur noch undeutlich in ihrem Gedächtnis vorhandenen Albtraum, der etwas mit Chuck Norris und den Fangarmen eines giftgrünen Kraken zu tun hatte.
Infolgedessen hatte sie das Gefühl, überhaupt nicht geschlafen zu haben. Wahrscheinlich sah sie zum Davonlaufen aus. Die Jeans waren löchrig, das Kakihemd voller schwarzer Katzenhaare. Und ihre eigenen Haare waren generell eine Katastrophe. Zu müde zum Kämmen, hatte sie sie einfach zusammengebunden.
Zwei Gedanken erreichten von fern ihren schlafenden Verstand: erstens, dass noch eine Menge Arbeit auf sie wartete und zweitens, dass es ganz fantastisch wäre, wenn sie den Expeditionsplan heute vollenden würde. Nicht nur, dass in dem Fall ein freies Wochenende lockte. Es brachte außerdem die Möglichkeit, den Plan bei Christopher vorbeizubringen. Das Dorf, in dem er lebte, war vermutlich ein beschauliches Plätzchen, und obwohl sie sich im Klaren war, dass diese Tatsache nicht der ausschlaggebende Punkt für ihren Ausflug war, schob sie den Gedanken an einen nächtlichen Spaziergang am Strand vor sich her.
„Verflixt noch mal“, entfuhr es ihr, als sie ihren Expeditionsplan aufrief. Dieses Ding war ihr inzwischen gewaltig zuwider. Ungeachtet dessen begann sie, ihre Eingaben zu machen. „Schnitt auf zehn Grad Süd von achtundsiebzig Grad dreißig Westnach fünfundachtzig Grad Süd. Mit acht CTD-biogeochemischen Stationen, drei experimentellen Stationen sowie Spurenme-tallbeprobungen …“
Ihre Disziplin schwand wie Schnee in der Sonne. Einerseits konnte sie es kaum erwarten, endlich auf Reisen zu gehen. Andererseits war die Aussicht, drei Monate mit einer Menge Menschen auf engstem Raum zu leben, eine furchterregende Vorstellung. Privatsphäre existierte auf einem Schiff nicht. An dieser Tatsache änderte auch eine Einzelkabine nichts, da es auf der Astero nur zwei Räume gab, die man abschließen konnte: Das Behandlungszimmer des Schiffsarztes samt Labor und das Lager. Schaudernd erinnerte sie sich an die Azorenreise vor vier Jahren, während der neunundzwanzig von vierzig Besat-zungsmitgliedern sturzbetrunken über Bord getorkelt waren, während sie Partylieder grölten und mit nach faulen Eiern stinkendem Tiefseeschlamm um sich warfen.
Sie musste endlich den Plan beenden.
„… versuchen, herauszufinden, welche Bakterien in welchen Wasserschichten leben können und was sie genau machen. Schwerpunkt liegt auf den Untersuchungen zur Nährstoffverfügbarkeit und welcher Nährstoff oder welche Kombination von Nährstoffen …“
Während sie tippte, schweiften ihre Gedanken zu Christopher ab. Sie dachte an seine Augen, an sein meeresgöttliches Gesicht und seine sonderbare Art. Sie musste ihn dringend zu dieser Sache mit den Walgesängen befragen, auch wenn der rationale Teil in ihr darauf beharrte, dass kein Mensch auf Erden diese Tiere verstehen konnte. Niemand vermochte das tiefere Gefüge des Ozeans zu begreifen, weil es zu groß war. Zu überwältigend. Nicht die menschliche Sprache war es, die über das komplexeste Lautsystem dieses Planeten verfügte, sondern die Lieder der Buckelwale. Selbst nach vielen Jahren Forschung hatte sie das Gefühl, nicht einmal die Spitze des Eisberges zu kennen.
Aber was war mit diesem Mann? Ein paar weitere Tests hätten sie davon überzeugt, nicht verrückt zu sein und ihre überschnappenden Gedanken aus dem Wolkenkuckucksheim herausgeholt. Oder das Gegenteil bewirkt. Ach, was sollte das? Solche Überlegungen waren schon vom Grundsatz her überflüssig. Dr. Christopher Jacobsen würde den Teufel tun, sich irgendwelchen hanebüchenen Tests zu unterziehen.
Im Laufe der Expedition würde sich das Geheimnis vermutlich von ganz allein lüften. Auf einem Schiff, das wusste sie aus eigener Erfahrung, blieb nichts lange verborgen.
Obwohl es sein eigenes Bett war, fühlte es sich seltsam an, darin zu liegen. Der Stoff auf seiner Haut, das Gefühl der Schwere, der Trockenheit und der Wärme. Widerwillig öffnete Christopher die Augen, blinzelte ins Licht und war zuerst der Meinung, nur geträumt zu haben. In seinem Schädel pulsierte es mit einem schmerzhaften Rhythmus. Ein vertrautes Gefühl, denn so erging es ihm
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