Meeresblau
grausam. Sie konnte es ihm nicht verübeln, denn ihre Welt war so anders als seine. Einfacher, geordneter und Gesetzen unterworfen, die in ihrer Klarheit brutal wirkten.
„Bitte komm zurück. Du kannst es nicht aufhalten.“
Sie schloss die Augen und rief sich sein Gesicht vor das innere Auge. Sein schönes Gesicht mit den schwarzblauen Augen, die so viele Dinge noch nicht gesehen hatten. Im Geiste berührte sie es, hauchte einen Kuss auf seine Lippen und versuchte ihm zu bedeuten, was sie fühlte. Sie wollte ihn beschützen. Sie wollte ihm eine Lehrerin und eine Gefährtin sein, hier draußen in einer Welt, deren Herrlichkeit berauschend war.
Doch es war zu spät.
Kapitel 2
Erkenntnisse
„Wie Träume liegen die Inseln
im Nebel auf dem Meer
.
Noch einmal schauert leise
und schweiget dann der Wind
.
Vernehmlich werden die Stimmen
,
die über der Tiefe sind.“
(Theodor Storm)
A lles ging so schnell, dass Jeanne kaum begriff, wie ihr geschah. Plötzlich saß sie in Mayas Jeep. Eingequetscht zwischen Reisetaschen und Rucksäcken wandte sie sich noch einmal um, prägte sich jede Kleinigkeit ein und versuchte, sie festzuhalten. Eine Weile sagte niemand ein Wort. Wenn Mom und Dad sie jetzt nur sehen könnten. Ihre sonst so scheue, zurückhaltende Tochter auf dem Weg zu drei Monaten Forschungsarbeit im Pazifik. Sie wären schrecklich stolz gewesen, und das war ein tröstender Gedanke.
Abenteuerlust vertrieb ihre Trübsal. Sie beobachtete die Berge, die an ihnen vorbeizogen, in der Abenddämmerung schimmernde Seen und Kiefernwälder. Vielleicht würde ihr ja alles noch schöner erscheinen, wenn sie nach drei Monaten zurückkehrte. Abgesehen von Finn, der vermutlich rigoros fasten, abmagern und die Sheepbouwers zur Verzweiflung treiben würde.
Viel zu schnell kamen sie zur Brücke. Als Jeanne zum letzten Mal zurückblickte, sah sie Skyes Berge und Klippen in der Dunkelheit verschwinden. Alles, was für sie Heimat bedeutete, lag nun endgültig hinter ihnen. Auf kopfüberhängende Weise war es ein gutes Gefühl. Wie eine Flucht vor Trauer und Verlustangst.
„Und? War es schlimm?“
Mayas Hand legte sich mitfühlend auf die ihres Bruders. Auch wenn die Gewissheit, dass Christopher diese Frau liebte, anfangs wehgetan hatte, war Jeannes Eifersucht inzwischen abgeflaut. Niemals hatte er gelöster und glücklicher gewirkt als jetzt, da Maya bei ihm war. Es war, als wäre der Schatten seines Schicksals von ihm abgefallen und für diese Wirkung auf ihren Bruder war sie Maya dankbar.
„Auf ins Abenteuer.“ Christopher warf Maya einen Seitenblick zu. „Übrigens habe ich zwei Vorträge vorbereitet. Wo du mich doch so nett darum gebeten hast.“
„Klasse. Worum geht’s?“
„Vortrag Nummer eins lautet
Energiequellen aus dem Meer
. Eine kritische Betrachtung der Vor- und Nachteile. Vortrag Nummer zwei trägt den Namen
Sirenenzauber – Die Erotik des Todes
.“
Maya gab einen überraschten Laut von sich. „Hast du etwa vor, aus dem Nähkästchen zu plaudern?“
„Natürlich nicht.“ Christopher grinste. „Es ist ein älterer Vortrag, den ich das erste Mal vor einem Jahr in Dublin gehalten habe.“
„Ich rechne mit zehn Prozent Beteiligung an Vortrag Nummer eins und mit neunundneunzig Prozent an Vortrag Nummer zwei. Wobei, nein, die Bude wird so oder so gerammelt voll sein. Es gibt Leute, die können über das Liebesleben von Toast-brot reden und man hängt gebannt an ihren Lippen.“
Wieder gab Christopher ein melodisches Lachen von sich. Jeanne glaubte, unter der Oberfläche menschlicher Tarnung etwas herauszuhören. Etwas Schleichendes, Gedanken Vernebelndes. Eine Gänsehaut überzog ihren Körper.
„Alles klar bei dir?“ Plötzlich war sein Blick auf sie geheftet. „Du bist so still.“
„Mir geht’s gut.“ Sie verwuschelte seine Haare, die von dem letzten Ausflug ins Wasser noch immer feucht waren. Skyes Meerwasser. Eine letzte kleine Verbindung nach Hause.
„Ich kann es gar nicht glauben. Morgen sind wir schon in Südamerika.“
„Eigentlich übermorgen“, korrigierte Maya. „Nachher geht unser Flug nach London, und morgen Abend wagen wir den Sprung über den großen Teich. Dann landen wir in Sao Paulo zwischen und schlagen zu guter Letzt in Santiago auf. Hach. Klingt dieser Name nicht aufregend? Santiago. Das ist schwüle Hitze, das sind wilde Rhythmen und heiße Nächte. Erotik pur auf der Zunge, dieses Wort. Findet ihr nicht? Ich muss dringend mit euch in diesen Club. Habe nur
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