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Meeresblau

Meeresblau

Titel: Meeresblau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Strauß
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seinen Namen vergessen.“
    Jeanne grinste. Zufrieden kuschelte sie sich zwischen den Reisetaschen in ihren Sitz, ließ den Kopf zurücksinken und setzte die Kopfhörer ihres MP3-Players ein. Marillions Ocean Cloud erklang. Für sie war es Christophers Lied. Ein schmerzhafter Traum von Befreiung und Sehnsucht.
    „I’ve seen too much of life/ so the sea is my wife/ and a sweet Ocean Cloud / is a mistress I’m allowed for now.”
    Ihre Augenlider wurden schwerer und schwerer. Erhaben berührten die Berge der Highlands den Nachthimmel und glitten in den Horizont hinaus, als nähmen sie nie ein Ende. Die Stirn an die Scheibe gepresst, döste sie vor sich hin. Letzte Nacht war sie von einem furchtbaren Traum geweckt geworden. Sie hatte in einem Boot gesessen, mit Christopher in ihren Armen und umringt von einem ruhigen Meer, das sich wellte wie Satin. Immer schwerer war sein Atem gegangen, immer trockener war seine Haut geworden, bis sie unter Jeannes Fingern aufgeplatzt war wie brüchiges Pergament. Das Wasser war seine Rettung, sein Lebenselixier, doch sie hatte ihn nicht loslassen können. Waren Träume real? Was waren Träume überhaupt? Ihre Mutter hatte damals eine ganz eigene Idee dazu gehabt.
    „Es ist vielleicht so, Jeanne, als hielte man einen Fächer in der Hand. Ist man wach, ist der Fächer geschlossen. Schläft man, ist er geöffnet. Beides ist real, nur auf andere Weise.“
    Erschöpft rieb sie sich die Augen. Angst sickerte in ihren Magen und nistete sich ein wie ein Gewicht aus Blei. Dieses Gefühl wurde derart schwer, dass sie es nicht mehr aushielt.
    „Wir werden drei Monate dem Meer ganz nah sein“, flüsterte sie ihrem Bruder ins Ohr. „Noch näher als auf unserer Insel.“
    „Und?“, erwiderte er schläfrig. „Worauf willst du hinaus?“
    „Was, wenn du es nicht erträgst?“
    „Du bist schon wieder bedeutungsschwanger im neunten Monat. Hör auf damit.“
    Jeanne biss sich auf die Zunge. Seine Augen erschienen ihr so schmerzhaft schön, dass alles in ihr danach schrie, sich von ihrem Anblick abzuwenden. Und doch konnte sie es nicht.
    „Es ist besser geworden“, sagte er leise. „Viel besser.“
    „Wirklich?“
    „Ja. Und jetzt muss ich schlafen. Vergiss mal deine düsteren Gedanken. Vertrau mir einfach, ja?“ Damit wandte er sich ab und sank im Sitz zurück.
    „Ich hab dich sehr lieb.“ Sie formte die Worte stumm mit ihren Lippen. „Wenn du gehen willst, dann halte ich dich nicht auf. Versprochen.“

    Im Traum rannte er direkt auf die Klippe zu. Mitten im Lauf riss Christopher sich die Kleider vom Leib. Das Meer tauchte vor ihm auf, glänzte silbern im Sonnenlicht. Kurz vor dem Abgrund fetzte er sich den letzten Rest Kleidung vom Körper, holte tief Atem und sprang.
    Alles Vergangene wurde bedeutungslos. Es blieb hinter ihm zurück, oben auf den Klippen. Er breitete die Arme aus, spürte den Wind, den Fall, die Gischt der Wellen. Dann tauchte er hinein in das Blau. Funkelnde Blasen perlten über seine Haut, erfrischender Sauerstoff durchdrang seinen Körper. Er sog das Wasser tief in seine Lungen, streifte mit den Füßen den sandigen Grund und tauchte wieder auf zur im Sonnenlicht schimmernden Oberfläche. Er durchbrach sie nicht, sondern schwebte unter ihr, die Arme wie Flügel ausgestreckt. Er wartete auf den Schmerz der Verwandlung und als er kam und alle Menschlichkeit auslöschte, wehrte er sich nicht dagegen. Das Wasser strömte in jede Körperfaser, ließ ihn eins werden mit dem Ozean.
    Endlich …
    Der Schmerz der Metamorphose wich. Alles war so, wie es sein sollte. Das Land war nur noch eine ferne Erinnerung. Er war hier. In der Tiefe. Es gab keine Grenzen mehr, nur die gewaltige Weite der See. Er schwamm zur Oberfläche und in jenem Moment, da er zwischen Wasser und Himmel war, als die Sonne auf seinen Körper schien und er in einer Kaskade aus Tropfen wieder in das Meer eintauchte, wurde der letzte Rest Menschsein aus ihm getilgt und durch vollkommenes Glück ersetzt. Weit schwamm er hinaus, der Freiheit entgegen. Sein Körper, halb Fisch, halb Mensch, trug ihn mit kraftvoller Mühelosigkeit. Die Felsen unter ihm verschwanden in der Tiefe. Um ihn herum, so weit er sehen konnte und so tief seine Ahnung reichte, gab es nur noch Blau.
    Gefleckte Delfine jagten durch das Wasser. Fächerfische und Marline, Makrelen, Blauhaie und ein Schwertfisch. Über einem Tiefseegraben, der pechschwarz im Meeresboden klaffte, jagten sie einen glitzernden Sardinenschwarm. Leben in

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